Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
alle stumm. Als Anne Treleaven wieder zu sprechen begann, war ihr Ton ungewöhnlich sanft. »Danke, Mary. Es ist dir hoch anzurechnen, dass du die Geschichte deines früheren Lebens so klar und ohne übertriebene Bitterkeit erzählen kannst.« Sie lächelte ein wenig. »Wie du weißt, legen wir hier am Institut großen Wert auf Charakterstärke. Nun, meine Liebe?«, wandte sich Anne Treleaven an Felicity Frame. Ihre Stimme war wieder geschäftlich. »Wie beurteilen wir Marys berufliche Möglichkeiten? Dass sie intelligent und ehrgeizig ist, ist offensichtlich.«
»Sie ist loyal und zu äußerster Diskretion fähig«, sagte Felicity Frame anerkennend. »Außerdem ist siemutig, beharrlich und entschlossen. Und sie ist bemüht, das zu tun, was sie für richtig hält.«
Mary glühte förmlich, weil sie so warm und unerwartet gepriesen wurde.
»Nichtsdestoweniger. Sie neigt zu Ungestüm«, stellte Anne Treleaven kühl fest. »Sie kann keine Kritik vertragen und will niemals anerkennen, dass sie im Unrecht ist. Fremden gegenüber, vor allem Männern, verhält sie sich scheu. Angesichts ihrer Kindheit kann man das zwar verstehen, aber es ist dennoch ein Fehler.«
Marys stolzes Erglühen wurde von einem dunklen Rot der Scham abgelöst. Sie hatten ja nur zu recht.
»Mary, du siehst etwas erhitzt aus«, bemerkte Miss Treleaven. »Möchtest du diese Unterhaltung fortsetzen?«
Mary schluckte heftig. »Ja«, flüsterte sie.
»Also gut. Wir verstehen deine Haltung und kennen deinen Charakter.« Anne Treleaven sah Felicity Frame an, die kurz nickte. »Wie es der Zufall will, Mary, haben wir eine Stellung im Auge, von der wir annehmen, dass sie deinen Fähigkeiten sehr gut entspricht.«
Mary sah begierig auf.
»Doch ehe wir fortfahren«, sagte Miss Treleaven streng, »musst du hoch und heilig versprechen, dass du über unsere Unterhaltung vollkommenes Stillschweigen bewahrst und keinerlei Andeutungen darüber machst – keinem einzigen Menschen gegenüber. Hast du mich verstanden?«
Mary schluckte und nickte. »Ja.«
»Schwöre es.«
»Ich verspreche hoch und heilig, dass ich keiner Seele auch nur ein Wort von dem erzähle, was Sie mir jetzt sagen wollen.«
Anne Treleavens Züge entspannten sich etwas und sie nickte zufrieden. Sie trat neben die Feuerstelle und ließ die Hand hinter die polierte Verkleidung des Kamins gleiten. Ein kaum hörbares Klicken folgte. Darauf glitt links von Mary ein Teil der verblassten Wandverkleidung beiseite, hinter der eine schmale, dunkle Öffnung erschien.
Marys Kinn sackte vor Verblüffung nach unten. Mühsam löste sie den Blick davon und sah Anne Treleaven wieder an, die ein winziges triumphierendes Lächeln zur Schau trug.
»Nun, dann wollen wir uns in die Zentrale der Agentur begeben.«
***
Zitternd vor Aufregung stand Mary auf und folgte den Frauen in die schmale Wandöffnung und durch einen kurzen Gang. Obwohl es kein Licht in dem Tunnel gab, waren die Backsteine trocken und frei von Spinnweben – was auf rege Benutzung schließen ließ. Sie kamen in einem großen, schlichten Zimmer heraus, in dem ein runder Tisch mit steiflehnigen Stühlen stand. Anne Treleaven und Felicity Frame stellten die Petroleumlampen ab, die sie mitgebracht hatten. Das gelbliche Licht glitt flackernd über dienackten Backsteinwände und die rohen Holzdielen und verbreitete eine seltsame Behaglichkeit.
Alle drei setzten sich um den runden Tisch und Anne Treleaven schenkte Mary ein warmes Lächeln. »Ich habe die ganze Zeit gehofft, dass du dich an uns wenden würdest, meine Liebe – und da bist du nun. Aber ich habe bereits zu viel geredet und dir vielleicht den Eindruck vermittelt, dass ich hier das Sagen habe. Dem ist nicht so; die Agentur ist ein Kollektiv, auch wenn am heutigen Nachmittag nur zwei von uns anwesend sind. Mrs Frame, würden Sie so nett sein und Mary erklären, was wir hier machen?«
Felicity Frame räusperte sich; sie war bisher ungewöhnlich schweigsam gewesen. »Wie du weißt, ist der Zweck von Miss Scrimshaws Mädcheninstitut, es jungen Frauen zu ermöglichen, ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zu erlangen. Die Ehe ist ein zweischneidiges Wagnis, und die naheliegenden Berufsmöglichkeiten, die Frauen offenstehen, sind vom guten Willen der Arbeitgeber abhängig. Aus diesem Grund werden die meisten Gouvernanten und Hausangestellten so schamlos ausgenutzt.«
Anne Treleaven stimmte ihr mit vehementem Nicken zu. »Genau. Obwohl es nur wenige berufliche Möglichkeiten
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