Ein weißes Land
taugliche Waffe in der Hand. Doch niemand von ihnen versuchte es auch nur. Immer stellte ich mir den angekündigten Tod vor wie die Wirkung von Opium, das ich nie genommen habe: Der Kopf ist voller sich jagender Gedanken, doch man kann kein Glied rühren, um auch nur einen in die Tat umzusetzen; alles Leben ist in den Kopf gepfercht.
Hinter den Wolken war der Mond nichts als ein leuchtender Stein, Rauch schien über ihn hinwegzuziehen. Auf Teuers Kommando hin begannen die Russen zu graben. Sie taten es mit Eifer, denn die Kälte war schneidend und wurde mit jeder Minute schwerer zu ertragen. Mit klappernden Zähnen sah ich Arkadi vortreten. In gebrochenem, kaum verständlichem Deutsch versuchte er zu erklären, dass es sich hierbei um einen Irrtum handelte. Doch der Hauptsturmführer fiel ihm ins Wort.
»Nix Irrtum«, brüllte er auf. »Du bist ein Partisan. Das ganze Lager bestätigt das. Ich weiß nicht, wie lange du schon, äh, insubordinierst, du rote Sau, du.«
Die Männer vermochten den noch immer steinharten Boden nicht zu lösen, sie konnten nur den grauen Schnee beiseitekratzen, und seltsamerweise brachte sie das dazu, sich doch noch gegen ihre Henker zu wenden. Wie auf ein Kommando traten wir Übrigen zurück von ihnen, die in ihren schlecht geknöpften Hemden und Jacken selbst aussahen wie Betrunkene nach einem Gelage. Sofort ließ der Hauptsturmführer das Feuer eröffnen, doch etwa zwanzig Männern gelang es, in die Nacht und die Kälte hinauszufliehen. Noch einmal so viele lagen tot oder verletzt in der breiten, dunklen Furche, die sie gegraben hatten.
»Scheiße«, sagte Teuer, bevor er mit zitternder Hand die Fangschüsse gab.
Endlich konnten wir zurück in die Baracke und der Gedanke an die Entflohenen ließ uns noch dankbarer sein für die Nähe des Ofens.
Es schien den Verdacht des Hauptsturmführers zu bestätigen, dass es zu der von vielen erwarteten Meuterei nicht kam. Doch gab es unter seinem Kommando auch keinen einzigen Einsatz mehr. Stattdessen saßen wir untätig in den Baracken, sahen wie Krad-Schützen über das weiße Land mehr rutschten als fuhren und wie Pferdeschlitten das Lager in Richtung Minsk verließen und zurückkamen.
Die Temperaturen stiegen allmählich, es knackte im Gebälk der Baracken. Jeder wusste, dass die allgemeine Ordnung erschüttert worden war. Mit dem Schnee verschwand schließlich auch unser neuer Kommandant. Er wurde abgelöst durch einen etwas älteren Scharführer Schneck, der darauf bestand, von uns »Papa« genannt zu werden, aber eigentlich nur die Aufgabe hatte, die glücklose Einheit aufzulösen.
In dieser Zeit hatte ich mich mit Rostam und Farhad angefreundet, die uns Gesellschaft leisteten, auch wenn sie dabei wenig sprachen. Rostam war Usbeke, so viel konnte ich erfahren, und er verabscheute niemanden auf der Welt so sehr wie die Bolschewiken. Etwas musste mit seiner Familie geschehen sein, doch immer, wenn wir unsere mühsamen Gespräche auf dieses Thema lenkten, verstummte er. Sein Gesicht war verschlossen, fast schien es, als könne es keinerlei innere Regung zeigen. Das änderte sich, wenn er lachte; dann verengten sich seine schmalen Augen zu funkelnden Schlitzen und er begann den Kopf zu schütteln wie ein nasser Hund. Wenn ich selbst schon nicht der sagenhafte Held sein konnte, so war ich doch froh, jemanden mit seinem Namen in meiner Nähe zu haben.
Mit Farhad war es schwieriger. Fadil und ich hielten ihn für einen Iraner, doch auch wenn er uns offenbar verstand, er sprach einfach nicht und schon gar nicht über seine Herkunft. Mehrmals erfasste ihn ein merkwürdiges Zittern, wenn wir ihm Fragen stellten, und sein lauernder Blick von unten machte uns Angst. Heute glaube ich, diese Männer waren weniger Legionäre als Versprengte, die sich irgendwann in dem gewaltigen Netz, das die Deutschen ausgeworfen hatten, verfingen.
Beim stundenlangen Schafkopfspiel sagte uns Fadil die Zukunft voraus:
»Sie wollen uns loswerden, ihr werdet sehen. Und das ist nicht gut für uns.«
Er sollte recht behalten.
Weit beunruhigender jedoch waren die Nachrichten, die uns aus Minsk erreichten. Der Scharführer erging sich in Andeutungen. Demnach war ein russischer Offizier in der Minsker Gestapo-Zentrale gesprächig geworden.
»Ein paar Daumenschrauben und ein schönes heißes Fußbad wirken bei jedem Wunder, glaubt mir«, sagte Papa Schneck lächelnd, bevor er uns das Ergebnis des Verhörs mitteilte.
Eine große russische Offensive stand unmittelbar
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