Ein weißes Land
erbärmlich, blickte mich um, doch hier lagen nur Erstarrte, deren Atemfahnen zuweilen verrieten, dass sie noch am Leben waren.
Es dauerte eine Stunde, bis der Doktor zurückkam, sich an der Seite des Opel Blitz zu schaffen machte, endlich gegen die Kabinentür schlug und auf die Ladefläche stieg. Erst nach mehreren Versuchen sprang der Motor an.
»Jetzt geht es los«, sagte Stein. »Ich fürchte nur, es sind nicht genug Benzinkanister, die ich auftreiben konnte. Alle Verpflegungslager waren geplündert.«
Der Wawel mit der leeren, noch immer beleuchteten Treppe glitt langsam an uns vorbei, seine Dächer waren weiß über den Reihen dunkler Fenster. Dr. Stein griff nach meinem Kinn und leuchtete mir mit einer Taschenlampe ins Gesicht.
»Dein Bartwuchs könnte darunter gelitten haben. Ansonsten ist es besser, als ich erwartet habe. Und da drin?« Er tippte mir mit dem Finger an die Stirn, ein Ruck ging durch den Transporter und schüttelte uns durch. Jetzt konnte ich ihm alles erzählen, auch wenn er im Lärm und in der Kälte unaufmerksam war, ich konnte es.
Fadil und ich blieben einfach immer dicht beieinander, so kam niemand auf den Gedanken, uns zu trennen. Zunächst schien das ein Glück zu sein. Unser Haufen wartete lange an der Verladestelle, wo wir Landsern beim Stapeln von Benzinkanistern zusahen. Im Vergleich zu ihnen, die uns kaum einmal ansahen, wirkten wir in unseren zerschlissenen Uniformen und ausgetretenen Stiefeln wie Herumtreiber. Niemand hatte uns Genaueres über die neue Einheit oder den Bereitstellungsraum gesagt. Es hieß einfach nur: »Ihr werdet schon sehen.«
Die russische Offensive hatte begonnen und sich gegen Minsk gerichtet. Sie schien erfolgreich zu verlaufen. Gerade noch rechtzeitig hatten wir unsere Stellungen verlassen und bummelten nun vor der Roten Armee in quälend langsamen Zügen quer durch bandenverseuchtes Gebiet westwärts.
Die Fahrt zog sich so lange hin, dass uns vom Kartenspielen die Finger schmerzten. Es gab Wein aus großen schmutzigen Kübeln. Immer wieder hielt der Zug auf der Strecke und wir wurden zur Gleiskontrolle hinausgeschickt. Doch wir fanden nichts als verdächtig aussehende Erdklumpen und einmal sogar einen mumifizierten Pferdekopf. Wieder im Zug, legten wir uns auf das in den Gängen verstreute Heu und dämmerten vor uns hin, zu träge selbst, um die Zigaretten zu halten. Vor den Fenstern zog leeres Ackerland vorüber, dann wieder Bauernkaten mit Gemüsegärten und bunten Zäunen oder sumpfige Gewässer, in denen die toten Bäume zu kleben schienen. Über die Wege schleppten sich manchmal endlose Kolonnen trauriger Gestalten, deren Füße in verschnürten Lumpenbündeln steckten. Die waren noch ärmer dran als wir.
Man brachte uns an den richtigen Ort, um einem leibhaftigen Ghul zu begegnen, einem Fabelwesen wie in den Märchen. Nur, dieses forderte nicht zum Kampf, wollte keine Rätsel gelöst wissen. Es gab keine Aufgabe für den Helden: Der ganze Schrecken dieses Wesens lag darin, ihm zu begegnen und zuzuschauen.
Ich sah Warschau, eine mäßig zerstörte Stadt, durch das Zugfenster, Kirchtürme, Wohnblocks, Straßenbäume und Laternen, hier und da Rauchfahnen. Wehrmacht, SD , Polizeieinheiten und SS waren überall.
»Sie ziehen zusammen, was sie haben«, sagte Fadil. »Es muss etwas dran sein an der Sache mit dem Aufstand.«
»Wer würde das wagen? Sie sind in der Stadt gefangen«, erwiderte ich.
Fadil knabberte an seinem schwarzen Daumennagel. »Sie hoffen auf Hilfe von außen.«
Am Sammelpunkt, einer leer stehenden Fabrik im Westen der Stadt, sah ich Dirlewanger zum ersten Mal aus der Nähe. Papa Schneck jagte uns im Laufschritt in die riesige, nach Essig und Spiritus riechende Halle hinein. Es war Spätnachmittag, die Augustsonne versank gerade hinter den Häusern und warf ihr weiches, warmes Licht durch das Eingangstor und die Fabrikfenster auf die in langen Reihen angetretenen Männer seines Strafbataillons. Es waren seltsame Gestalten, hinter denen wir Aufstellung nahmen: Kaum einer trug irgendwelche Zeichen seiner Einheit an den Ärmeln, ihre Kleidung war schäbig, einige trugen sogar die Patronengurte gekreuzt über der Brust.
Der Gedanke Fadils, dass man uns loswerden wollte, schien sich hier zu bestätigen. Noch im Zug hatten wir darüber diskutiert, was sie mit uns vorhaben mochten. Jetzt waren wir einem Strafbataillon zugeordnet worden und Fadil deutete dies später als Strafe für jene Meuterei, die keine gewesen
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