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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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und die Gesichter der beiden Jungen vorbeifliegen. Unaufhörlich sprachen sie auf mich ein und ließen mich dabei weiter wie einen Derwisch umherwirbeln. Schließlich wollten sie mich zu Fall bringen.
    »Hört auf«, stieß ich auf Deutsch hervor, da ließen sie plötzlich ab.
    Einer schlug meinen Jackenaufschlag zurück, suchte wohl nach einer Waffe, gleich darauf spürte ich Finger an meinem Kopfverband herumdrücken.
    »Wer?«, fuhren sie mich an. »Name? Wer?«
    Ich antwortete nicht. Wieder wie auf ein Kommando packte jeder einen meiner Arme und legte ihn sich über die Schulter. So zogen sie mich die Straße entlang. Mir fehlte die Kraft, mich dagegen zu wehren. Unsere Schritte hallten in der Gasse zwischen den dunklen Häusern durch die Nacht. Die beiden Jungen sprachen kein weiteres Wort, und ich war sicher, sie würden mich in einer verborgenen Ecke umbringen. Dennoch ließ ich mich davonziehen, betrachtete das feucht glänzende Straßenpflaster und die schweren hölzernen Türen, an denen wir vorbeischlichen wie Diebe.
    Sie führten mich durch eine Toreinfahrt und über einen Hof wieder in ein offenes Haus mit verglasten Türen und engen Treppen, die hinab in Kellerräume führten. Doch all das passierten wir nur und traten ins Freie hinaus. An einer Friedhofsmauer und vorgeneigten, bauchigen Fassaden vorbei, kamen wir in ein menschenleeres Viertel.
    Die Fensterhöhlen gähnten schwarz in die Nacht und bevor wir die offene Straße betraten, rissen mich meine Entführer zurück und pressten mich gegen die Hauswand. Einer von ihnen legte mir die Hand auf den Mundschlitz, so dass ich beinahe erstickte, ich wehrte mich verzweifelt, da nahm er die Hand fort und legte den Finger an die Lippen. Wir warteten ab; wahrscheinlich zog vorn ein Posten vorüber. Ich drehte den Kopf, um ihn möglicherweise zu sehen, doch am Ende der Straße erhob sich nur fensterlos und mit hohen schmalen Bögen verziert ein massiges Gebäude. Es stand quer zur Straße, schloss sie ab wie ein Riegel, und die vier winzigen Türmchen an den Ecken brachten mich auf den Gedanken, dass es eine Synagoge sein musste.
    Nach ein paar Minuten zogen mich die beiden weiter, immer nah an den feuchten Fassaden entlang und nie für mehr als zehn Schritte, bevor wir wieder in Deckung gingen und warteten. So kamen wir nur sehr langsam voran und überquerten schließlich auch noch beinahe in der Hocke die Straße. Sie drängten mich in ein altes Haus, schoben mich die hölzerne Treppe hinauf und ließen mich eine Stiege erklettern, bis wir endlich den Dachboden erreicht hatten.
    Hier oben gab es nicht viel mehr als einen hölzernen Tisch, ein paar Stühle und sorgfältig zugeklebte Fensterchen. Ein großer, schmutziger Spiegel mit verschnörkeltem Holzrahmen lehnte an der Wand, und Bücher stapelten sich in einer Ecke auf dem Boden. Je länger ich all diese Dinge betrachtete, desto wahrscheinlicher erschien es mir, dass hier einmal jemand, möglicherweise versteckt, gelebt hatte.
    Die Jungen sprachen leise miteinander, schienen zu beraten, was als Nächstes zu tun war. Ich saß auf dem Stuhl und verschnaufte, ganz allmählich kehrte die Angst zurück, jetzt sterben zu müssen, und mit ihr regte sich auch wieder die Erinnerung. Zur Unzeit zogen mir die Bilder durch den Kopf und ich ahnte, dass es nicht mehr lange dauerte, bis ich alles erzählen konnte, nicht wie es war, sondern wie es in mir geblieben ist, flackernd, aber nicht irrlichternd, klar genug, jedem einzelnen Schritt ausreichend Licht zu spenden.
    Einer der Jungen verließ den Raum und stieg die Leiter hinab. Der andere entzündete Kerzen und stellte einen sechsarmigen Leuchter auf den Tisch, wie ich ihn aus dem Haus der Golans kannte. Dann kramte er in seinen Taschen, zog ein Messer heraus, hielt es mir vor das Gesicht, um blitzschnell die andere Hand zu heben, in der er ein Stück Wurst hielt. Er grinste und schüttelte den Kopf, begann die Wurst in hauchdünne Scheiben zu schneiden, von denen er mir jeweils eine zuschob und sich die nächste selbst in den Mund steckte. Wir kauten die zähen, würzigen Scheiben und die Geste gab mir Hoffnung.
    Während er beschäftigt war, schaute ich mir den Jungen genauer an und glaubte zu wissen, wen ich vor mir hatte. Er erinnerte mich an all jene, gegen die wir in Warschau gekämpft hatten und die wie er manchmal unbekümmert, dann wieder ängstlich, immer aber entschlossen wirkten. So viele von ihnen hatte ich gesehen und auch getötet, dass dieser hier

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