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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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bevor, man erwartete sie in der nördlichen Ukraine, obwohl auch Minsk ein mögliches Ziel der Operation sein konnte. Sicher war nur, dass der Schlag erfolgen würde, und der Scharführer zweifelte offen an der Fähigkeit der Wehrmacht, dem Druck standhalten zu können. Er beruhigte uns jedoch mit der Aussicht auf einen planvollen Rückzug in sichere Stellungen.
    Ich dachte an die endlosen Kolonnen von Zwangsarbeitern und Hilfswilligen, die ich gesehen hatte, allesamt herangeführt für unablässige und nun doch sinnlose Schanzarbeiten im allmählich weicher werdenden Boden.
    Und bald standen wir wieder auf dem Appellplatz und hörten von Papa Schneck Worte wie: »neuer Bereitstellungsraum«, »Partisanenumtriebe in Polen« und, scherzhaft: »Zu neuen Ufern!« Inzwischen zwitscherten bereits Vögel in den Bäumen und die endlosen Ebenen um uns blühten eilig auf. Trotz aller Ungewissheit genossen wir das warme Sonnenlicht auf der Haut und auch die Aufbruchstimmung in jenen Wochen, wenn auch jedem klar sein musste, dass wir eigentlich auf der Flucht waren.

7.
    D ie alte Frau schüttelte den Kopf, als sie mich betrachtete. Ich wusste nicht, ob sie den Anblick missbilligte oder sich einfach nur fragte, was sie mit mir tun sollte. Die Kerzen in der Menora waren fast niedergebrannt, im schwindenden Licht erst fielen mir Kleinigkeiten auf, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. Ein Bündel bestickter Deckchen lag in der Ecke am Boden, verstopfte offensichtlich ein Mauseloch. An einer Wand waren Einschüsse zu sehen, in einem der Stützpfosten des Dachbodens steckte eine Gabel.
    Ich erwiderte die unverhohlenen Blicke der drei und begriff, dass meine Sprachlosigkeit und mein neues Aussehen die Chance bedeuteten, hier wegzukommen. Wahrscheinlich würden mich nicht einmal meine Bekannten wiedererkennen, und wenn ich nicht sprach, was mir leichtfallen würde, wäre ich jemand, der zu niemandem gehörte, abgetrennt von jeder Einheit und damit auch von der Vergangenheit. Jetzt schöpfte ich wieder Hoffnung, doch ließ es mir nicht anmerken, legte stattdessen den Kopf auf die Hände, um tiefe Verzweiflung auszudrücken.
    Ich hörte, wie sich die drei erhoben und einer nach dem anderen die Stiege hinabkletterten. Dann war ich allein. Von den Kerzen waren nur lange, weiche Rauchsäulen geblieben. Die Frau hatte nichts mehr zu mir gesagt, sie hatte mich entlassen, und so konnte ich noch eine Weile in diesem Raum sitzen, als wäre er mein Versteck vor dem, was vor und hinter mir lag, ein kleiner Turm, auf den ich aus dem Strom herausklettern konnte. Ich rastete.
    Doch mit der Ruhe, die in mich zurückkehrte, regte sich auch die Furcht. Was, wenn die Frau recht hatte, und alle längst fort sein würden, sobald ich zurückkam? Sollte ich mitten im Winter in einem fremden Land durch die Wälder irren, von Hof zu Hof ziehen und um etwas zu essen betteln? Wahrscheinlich würde man mich für einen entlaufenen Juden halten oder Terrorflieger würden mich auf den Feldwegen jagen. Ruckartig erhob ich mich und griff nach meinem schmutzigen Verband, den ich auf keinen Fall zurücklassen wollte, er gehörte zu mir.
    Es dämmerte bereits, als ich durch das leere Viertel über buckliges Pflaster stolperte. Kein Mensch war zu sehen; wie damals in Bagdad blickte ich ängstlich um mich und in jede Gasse, bereit, mich an die alten, pergamentfarbenen Mauern zu pressen oder in irgendein Rattenloch zu kriechen. Die kalte Luft ließ mein empfindliches, neues Gesicht erstarren wie eine Maske. Ich ging die Strecke Schritt für Schritt zurück, wie ich sie erinnerte, doch der Eingang zum Haus mit den Glastüren war mit einer schweren Kette verschlossen. Ruhelos suchte ich nach einem anderen Weg und fand ihn an der Friedhofsmauer, der ich bis zur nächsten größeren Straße folgte. Erleichtert stand ich vor dem alten Schulgebäude, betrat den Hof und stellte fest, dass das Lazarett verlassen war. Die Eingangstür stand offen, der Korridor und die Krankenstuben waren leer, nur der Geruch von Eiter, Schweiß und Angst hing noch in der Luft.
    Ich war kurz davor, mich zwischen die Reste der Krankenlager in dem lichtlosen Korridor zu setzen, als ich von der Treppe her ein Rumpeln hörte. Sofort war ich wieder wach und ging dem Geräusch nach, zwang mich zur Wachsamkeit und hatte doch Mühe, oben nicht sofort in das Schwesternzimmer zu stürzen, sondern die angelehnte Tür vorsichtig zu öffnen. Dr. Schultheiss fuhr herum und starrte mich entsetzt an. Er war in

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