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Ein weißes Land

Ein weißes Land

Titel: Ein weißes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherko Fatah
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und wahrscheinlich sind sie schon in Oppeln. Ich sage ja immer …«
    Ich ging um den Laster herum und stellte fest, dass der Fahrer wohl unrecht hatte. Am Straßenrand lag der zerfetzte Reifen eines Personenwagens, und ich hätte darauf gewettet, dass er vom vorausfahrenden Konvoi stammte. Ein paar Meter die Straße aufwärts stand ein hölzernes Kreuz mit einem kleinen Dach und dem auch von hier aus ziemlich gut erkennbaren toten Mann.
    Mir fielen die großen Skulpturen ein, an denen Fadil und ich vor allem in den Städten oft verwundert vorbeimarschiert waren. Immer staunten wir über ihre schmalen Gesichter mit den blinden Augen und fragten uns, was sie sagen wollten, von Einschüssen übersät oder im Staub der Straße, die Hände hilflos emporgereckt. War Schmerz die Botschaft dieser verzückt blickenden Heiligen, fragte ich mich, war das die Bedeutung des Mannes am Kreuz?
    Ich kniff die Augen zusammen und suchte nach einer Spur fremder Anwesenheit, doch außer einem schwarzen Fleck auf einem Hügel fand ich nichts.
    Die Ärzte diskutierten noch und die Fahrer mischten sich zurückhaltend ein, auf der Ladefläche jedoch wurden die Verletzten unruhig, schlugen gegen die Plane und riefen Unverständliches heraus. Am Ende willigte Stein ein, dass der Rest weiterfuhr, während wir den Reifen wechselten. Ein Helfer wurde für uns zurückgelassen, der sich sofort vor den Reifen hockte und ihn fachmännisch prüfte.
    Gleich darauf begann ein umständliches Manöver, der Transporter hinter uns musste zurücksetzen und pflügte den Schnee am Straßenrand um, die beiden anderen Laster tauchten bereits in die Dunkelheit, so blieb keine Zeit für Abschiedsworte. Dr. Stein blickte ihnen nach wie ein glückloser Heerführer, schreckte plötzlich auf und wandte sich an mich:
    »Tu mir den Gefallen und hol mir die kleine schwarze Tasche aus dem Wagen. Ich gehe schon voraus.«
    Ich kletterte wieder zu den Verletzten hinauf, beruhigte sie, versprach ihnen, dass es in Kürze weitergehen werde und tastete dabei nach der Tasche, die der Doktor die Fahrt über an seinen Körper gepresst hatte. Unser Fahrer befahl den Verwundeten lautstark, den Wagen zu verlassen.
    Ich musste den Doktor suchen, irrte durch lichtes Unterholz und wieder zurück zum Hügel, wo ich ihn in der Nähe des schwarzen Flecks hocken sah. Ganze Aktenstöße waren dort heraufgeschleppt und verbrannt worden. Manche Papiere steckten noch in schönen Lederhüllen, andere waren einmal wie Bücher eingebunden gewesen. Das Feuer hatte den Haufen in den Schnee sinken lassen, nur ein paar fliegende Blätter waren übrig: Tabellen, Zahlen, einzelne Wörter, auf manchen Dokumenten prangte der Reichsadler und umkrallte das Hakenkreuz.
    »Die haben ihre Zeit hier genutzt«, sagte der Doktor und erhob sich. »Aber bestimmt sind sie nicht fertig geworden. Da bleibt noch viel zu tun. Ja, jetzt muss alles schnell gehen.«
    Den letzten Satz sprach er beinahe spöttisch aus. Er nahm die Tasche, öffnete sie und wühlte darin herum, hob den Kopf und blickte mich triumphierend an.
    »Du entschuldigst doch«, sagte er und setzte sich nieder.
    Er zog die Spritze auf und schnürte sich den Arm ab.
    »Zieh das zusammen!«, befahl er und ich gehorchte.
    Gleich nachdem wir den Riemen wieder gelockert hatten, ließ er sich stöhnend in den Schnee fallen.
    Ich warf noch einen Blick auf die Überreste des Feuers und eigentlich begriff ich erst jetzt, dass mein deutsches Abenteuer fast zu Ende war. Jene merkwürdige Leichtigkeit, die einen Reisenden nie ganz verlässt, die ihn zu schützen scheint vor den kleinen, langwierigen Dingen, mit denen jeder um ihn beschäftigt ist, sie verließ mich nun und wich der unbezähmbaren Furcht, irgendwo hier im Nichts doch noch zu sterben.
    Die Blätter mit den schönen geraden Tabellenlinien lagen im Schnee wie die Reste einer Zeichnung. Mir war, als wäre etwas Papierenes lebendig geworden und als hätte es sich genau hier, vor meinen Augen, wieder zurückverwandelt.
    »Ich frage mich«, sagte der Doktor, der noch immer neben mir lag, »ob es mir vielleicht nicht sogar mehr Spaß macht, weil ich weiß, dass die anderen es brauchen. Verstehst du, es gibt eine lasterhafte Freude am Luxurieren.«
    Ich verstand ihn nicht recht, für mich war es das Gerede eines Süchtigen, so erhob ich mich, er reichte mir die Hand und ließ sich auf die Beine ziehen. Wir gingen auf den Hügel hinauf und erblickten in ein paar hundert Metern Entfernung eine intakte

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