Ein weißes Land
Wohnhäusern, Straßenbahnen, Marktplätzen, Parks und Brücken. Dort lebten keine armen Teufel, sondern Europäer: Männer mit Hüten und Spazierstöcken, Frauen in Sommerkleidern und auf hochhackigen Schuhen, es gab Theater, Schulen und Universitäten. In dieser Nacht aber war davon nichts mehr übrig. Tiefschwarze, turmhohe Rauchsäulen stützten den Himmel, und wie Speichen eines gewaltigen, brennenden Rades leuchteten die Straßenzüge um mich, ferne Schreie und Schüsse schwebten in der klebrigen Luft mit dem obszönen Geruch nach Verbranntem.
Ich schloss die Augen, ließ eine Minute verstreichen und versuchte zu mir zu kommen. Dabei konzentrierte ich mich ganz auf die Geräusche, bevor ich schließlich die Augen öffnete und über die Dächer schaute. Welch ein Anblick, dachte ich, von so weit her bist du gekommen, um zu sehen, wie die Reste einer alten Christenstadt in Millionen von mausgrauen Fetzen zu diesem Himmel aus Asche aufsteigen. Eine Windböe erhob sich, die Rauchsäulen über glühenden Gräben aus Stein bogen sich zur Weichsel hin; das riesige Rad schien sich zu drehen. Ich erbrach meine letzte Wodka-Ration. Schloss ich die Augen, war ich in einem der Keller, öffnete ich sie, war ich hier.
Ein paar Blöcke weiter erhob sich das Gebäude der Gestapo. Dort waren die hohen Fenster noch immer gelb beleuchtet. Aus den Schluchten zwischen den Fassaden hallten Schreie herauf; Brigadisten jagten junge Mädchen, hier machten sie oft Beute, denn dieser Teil der Stadt war voller Zivilisten.
Hans stieß mich an und zeigte hinüber zum Fluss mit den Resten einer zerstörten Brücke. Nur mit Mühe machte ich zwischen dunklen Mauern den vorderen Teil eines Panzers aus.
»Das sind sie. Dort drüben nehmen sie hinter ihren Panzern Sonnenbäder. Ansonsten behalten sie alles im Auge, vom Brückenpfeiler aus. »
»Ich verstehe es nicht. Was tun sie dort?«, sagte ich müde.
»Sie warten. Das ist hohe Politik.«
Plötzlich tauchte der Scharführer hinter uns auf und feixte:
»Hab ich euch Lumpen! Papa Schneck findet jeden.«
Es klang fröhlich und möglicherweise war sein Grinsen auch so gemeint. Ich ließ mich die Dachschräge hinuntergleiten. Der Scharführer hatte die Hände noch an der Leiter, da packte ich seinen Hals und drückte ihn zu, bis er nicht mehr anders konnte, als nach meiner Hand zu greifen, um sie zu lösen. Langsam schob ich ihn zurück und riss ihm seine extra für den hohen Besuch heute Abend angelegte, bronzene Nahkampfspange von der Jacke.
»Für Fadil«, sagte ich ihm noch in sein dunkel anlaufendes Gesicht und ließ ihn fallen.
Schlagartig war ich erleichtert, fühlte mich wieder frei wie ein Dieb, der Ausschau hält und dabei weiß, dass die Nacht ihm gehört.
»Was hast du getan?« Hans konnte kaum atmen vor Aufregung.
Ich polierte die Spange an meiner Hose, begutachtete sie eingehend und steckte sie ein.
»Nicht für mich, für einen Freund«, sagte ich. »Obwohl ich sie auch verdient hätte.«
»Was ist nur mit dir los? Sie werden ihn finden und … «
»Glaub mir«, sagte ich gleichmütig, »sie werden ihn verbrennen, wie Fadil und alle anderen.«
»Gib mir die Briefe wieder«, sagte Hans und schaukelte dabei mit dem Kopf. »Ich war sicher, du würdest überleben. Aber du bist wahnsinnig.«
Ich gab sie ihm, und als wir hinabstiegen, verließ mich mein Glück. Hans war schon unten auf der Straße und betrachtete das erstaunt zum Himmel blickende Gesicht des Unterscharführers. Ich verharrte auf der Leiter und versuchte aus reiner Neugier in eines der Fenster im obersten Stock zu schauen, hinter dem sich etwas geregt hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich ein blondes Mädchen von vielleicht zwanzig Jahren. Sie trug ein dunkles Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte, und darüber eine zerschlissene deutsche Feldjacke. Ihre Füße steckten wie meine eigenen in zu großen Stiefeln und was sie in den Händen hielt, war möglicherweise einer jener PIAT s, vor denen man uns gewarnt hatte, vielleicht auch etwas anderes. Sie richtete es auf das Fenster, ihr schmales Gesicht mit den blassen Lippen und der einen Strähne in der Stirn war eine Maske der Entschlossenheit. Ich spürte keine Angst, da war nur die Gewissheit, noch Zeit zu haben.
8.
D u musst auf etwas Weiches gefallen sein, so viel ist sicher«, sagte Dr. Stein. »Sonst hätten wir dich nicht zusammenflicken können. Ich weiß nicht, was die anderen mit dir gemacht haben, du kamst wie alle aus dem
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