Ein weißes Land
gelassen und ging durch den Raum, ohne sich umzublicken. Ein letzter warnender Ruf erscholl, dann krachte der Schuss und für eine Sekunde bohrte sich die Kugel in die hohe Stirn des Monsters, bevor es seinen Kopf bewegte und ein Loch in der Leinwand zurückblieb. Tumult brach aus, die Türen zum Kinosaal wurden aufgerissen, Licht drang herein und ließ die Gestalten auf der Leinwand blass werden wie Gespenster.
Trotz aller Proteste wurde die Vorführung aus Sicherheitsgründen abgebrochen. Seltsame Muster überflogen das Einschussloch, das leise Rattern des Projektors verstummte und Mirjam zog vorsichtig ihre Hand fort.
6.
D ass seit zwei Jahren die Militärs herrschten, war am deutlichsten bei den jährlichen Paraden zu bemerken. Die Jugendbrigaden marschierten auf Demonstrationen in immer größeren Verbänden. Noch hatten sie nicht zu einer einheitlichen Ordnung gefunden; es gab Weißhemden, Grünhemden und Schwarzhemden, doch alle pflügten sie deutlich sichtbare Rinnen in die Menschenmassen.
Seit einiger Zeit gab es auch an der Schule ein militärisches Training. Regelmäßig kamen Offiziere in die Klassen und unterwiesen die Schüler in Militärgeschichte. Wer wollte, konnte bei ihnen nachmittags das Reiten und sogar Schießen lernen. Zugleich breiteten sich die Jugendbrigaden auch hier aus; es bildeten sich Gruppen von uniformierten Schülern. Ich hasste diese Wichtigtuer von Anfang an. Bis auf wenige Mitläufer waren es vor allem die Söhne reicherer Familien, die sich so zusammentaten.
Schon wenn ich sie am Morgen sah, verdüsterte sich meine Stimmung. Es waren nicht so sehr ihre Fantasieuniformen, die mich störten, als vielmehr ihr verschwörerisches Getue und die dauernde Eckensteherei. Ich konnte an ihnen nicht vorbeigehen, ohne fürchten zu müssen, dass sie mich anrempelten oder sogar umstellten und von einem zum anderen stießen. Dieses Spiel währte manchmal eine Viertelstunde lang, bis sie mich am Schluss aus ihrem Kreis hinaus zu Boden warfen. Jeder, der nicht zu ihnen gehörte, sollte so oft wie möglich daran erinnert werden.
Manchmal stand einer von ihnen mitten im Unterricht auf und korrigierte den Lehrer. Meist ging es dabei um Geschichte. Dass die britische Herrschaft im Mandatsgebiet Irak auch Fortschritte mit sich gebracht hatte, dass die Wirtschaft nach den Osmanen erblüht war durch eine Politik des Ausgleichs zwischen den Volksgruppen und dass die Juden an dieser Entwicklung beteiligt waren, wurde als Blasphemie empfunden. Der picklige Bursche, der dann einsam im Raum stand und an seinem zu engen, verschwitzten Schwarzhemd herumzupfte, konnte kaum atmen vor Aufregung, während er sich bemühte, die Worte zusammenzubringen.
Der Lehrer wartete meist geduldig ab, ob nun aus Furcht vor dieser neuen Bewegung oder mit amüsiertem Interesse. So entstand eine lastende Stille, bevor der Junge mit seiner Erläuterung begann. Und genau wie Salomon es gesagt hatte, ging es immer um die nationale Einheit und ihre Bedrohung durch fremde Mächte. Juden waren seit jeher die Handlanger der Besatzer, weil sie kein Heimatland kannten und daher auch niemals verstehen konnten, dass andere ihr Land mehr liebten als ihr Leben. Ihnen konnte es nur recht sein, dass sie unter dem Schutz der fremden Mächte standen und somit eine sichere Basis hatten für ihre weltweiten Geschäfte, die sie immer reicher machten. Man brauchte nur auf die Geschichte schauen: Schon unter den Türken hatten die Juden es vermocht, immer bessere Bedingungen für ihresgleichen auszuhandeln, während ihre Nachbarn leiden mussten. Obwohl sie Dhimmys waren und damit nach dem Islam verpflichtet, höhere Abgaben als die anderen zu zahlen, wurden nur sie immer reicher.
»Warum?« Der Junge blickte nun in die Runde, alles, was er bisher geäußert hatte, wirkte aufgesagt. Jetzt aber atmete er schnaufend und hob die Stimme:
»Ihr alle, beantwortet die Frage: Warum? Sitzt nicht nur stumm da. Ihr wisst doch, wem die Geschäfte auf der Rashid-Straße gehören. Eure Eltern gehen dort einkaufen. Ihr wisst, wer in den großen Häusern wohnt. Diese Häuser haben die Engländer gebaut, genau wie die breiten Straßen davor. Und wenn ihr nicht begreift, warum, dann fragt euch, wer wohl die Autos besitzt, die diese Straßen brauchen, und wer auf Eselskarren herumfährt.«
Damit ließ er sich geräuschvoll zurück auf den Stuhl fallen, ein trotziges Grinsen im schweißnassen Gesicht. Der Lehrer nickte nur und ließ ein paar Sekunden
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