Ein weißes Land
geringsten Anlass zu töten. Man hörte jede Woche davon. Manchmal fielen sie in die Stadt ein, um zu plündern. Eine wahrhaft wilde Horde. Und zuweilen dauerte es Tage, bis die Soldaten des osmanischen Statthalters sie vertreiben konnten.«
Auch wenn ich nicht genau wusste, warum Ezras Vater mir das erzählte, spürte ich doch eine Absicht dahinter. Ich war nicht sicher, aber ich fragte mich, ob es sein konnte, dass Salomon mir auf einem weiten Umweg die Freundschaft zu Ezra ausreden wollte. Ich tat, was ich zu tun gewohnt war, wenn die Situation mir verbot, mich zu rühren: Ich begann zu träumen. Im schwindenden Tageslicht verschwammen Salomons Konturen, nur der rote Fez, trotzig getragen als Wahrzeichen einer vergangenen Zeit, in der Juden noch gezwungen waren, sich kenntlich zu machen, blieb deutlich sichtbar wie eine Krone. Ich saß einem König gegenüber. In meinem Traum war ich am Vorabend einer Schlacht mit bedeutenden Nachrichten zum Herrscher beordert worden. Aber dieser König war in meinen Augen dem Untergang geweiht. Ich blickte den mächtigen Salomon Golan an und wunderte mich über die Hartnäckigkeit dieses Gedankens. Lag es an dessen Kleidung, dass ich in diesem Mann ein Überbleibsel sah, auch wenn der europäische Anzug für seine moderne Gesinnung stand? Das Land hatte sich verändert.
»Das Land hat sich verändert«, murmelte ich, ohne es zu bemerken.
»Was sagst du?«, brummte Salomon.
»Nichts«, zischte ich schnell.
Doch er hatte mich verstanden, lehnte sich etwas zurück und legte zwei Finger an die Mundwinkel.
»Und du meinst, mir das sagen zu müssen?« Eine unangenehme Pause entstand. »Ich weiß das, glaube mir, ich weiß das. Dieses Land hat sich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren mehr verändert, als du ahnst. Aber hinter all diesen Veränderungen steckt nicht, was ihr jungen Leute denkt. Nur ein Teil davon ist Fortschritt, ein anderer ist Gewalt.«
Geräusche ertönten, Ezra kam zurück und seine Schwester brachte den Tee. Salomon verstummte sofort und verschränkte die Hände vor dem Gesicht.
Ich wurde nervös. Die Anwesenheit Mirjams schreckte mich auf, und doch wagte ich nicht, sie in Gegenwart ihres Vaters anzusehen. Salomon beobachtete mich, doch er schaute gutmütig dabei. Mir kam es vor, als wisse er Bescheid. Ich suchte den Blick Ezras, der aber nur unverbindlich lächelte und auf das Teeglas vor mir wies. Niemand wusste etwas zu sagen. In die lastende Stille hinein sagte ich:
»Die Lehrer sagen, es geht um die Vereinigung des Landes. Alle Bürger sind Teil einer einzigen Nation. Sie sagen, nur die Briten haben ein Interesse daran, die Minderheiten zu unterstützen. Die bezeichnen das als human und als modern. Die Lehrer aber meinen, sie verfahren dabei nach dem alten Prinzip: Herrsche und teile.«
Salomon hielt sein Teeglas noch in der Hand und blickte zum Fenster hinaus.
»Das ist der Wahn der Nationalisten«, sagte er müde. »Die Minderheiten – und damit meinen sie vor allen andern die Juden – waren und sind längst Teil dieser Gesellschaft. Wir haben dieses Land reich gemacht.«
Ezra ließ ein vernehmliches Seufzen hören.
»Ja, mein Sohn, durch Handel und nur durch ihn ist hier überhaupt etwas entstanden.«
Ezra wollte widersprechen, wagte es aber nicht. Wieder entstand eine unangenehme Stille. Ich ertrug es nicht länger, allein schon das Dämmerlicht im Raum wirkte ungastlich auf mich. Ich trank mein Glas aus und erhob mich geräuschvoll, bedankte mich und sagte, ich müsse jetzt dringend nach Hause, da es schon Abend werde und mein Vater mich sicherlich vermisste. Als ich stand, sah ich zu Mirjam, die betreten den Blick senkte. Nun wollte ich so schnell wie möglich fort von diesem Ort. Ezra begleitete mich hinaus.
Im Garten legte er mir die Hand auf die Schulter.
»Er meint es nicht so. Er ist ein alter Mann und seine Erfahrungen als Händler sind alles, was er hat. Er denkt nicht weiter. Ich werde dir das erklären.«
Ich war gerührt von Ezras Fürsorge. Doch als ich das Hoftor hinter mir schloss und durch die dunklen Gassen ging, fühlte ich deutlich die Kränkung, die ich erfahren hatte. Der alte Salomon hatte mir zu verstehen gegeben, dass ich in seinem Haus nicht erwünscht war.
Der unangenehme Eindruck, den der Besuch auf mich gemacht hatte, verblasste allerdings schon bald. Ezra schienen die Wünsche seines Vaters nicht zu interessieren, im Gegenteil, er suchte meine Nähe von nun an noch häufiger, postierte sich an meinen
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