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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Wandlitzer gekippt waren. Nur paar Nullen blieben, die vor sich hin grinsten, bis endlich, heute vor einem Jahr genau: ›Macht auf das Tor!‹ Und auf war es …« Das also hatte in seiner Absicht gelegen. Hier, über die Grube, den Abgrund hinweg, wollte er den g. November abfeiern, natürlich nur den vom Vorjahr: »Weg war die Mauer, wie von Geisterhand weg …« Was kümmerte Hoftaller und seinesgleichen die Novemberrevolution, der Marsch auf die Feldherrnhalle, die Reichskristallnacht, die vielen Novembertoten. »Nein, Wuttke, bei uns ging es friedlich zu. Kein Blutvergießen. Die sollten uns heil und vollzählig bekommen. War ja unsere Stunde. Hatten nie mehr Erfolg zu verbuchen als seit dem Mauerfall. Jahrelang hat man uns beschimpft, gehaßt oder noch schlimmer … Die Firma Horch, Guck und Greif nannte man uns. Stasiwitze hat man gerissen, auf unsere Kosten gereimt, besonders dieser Schreihals, den wir, auf Anraten der höchsten Genossin, viel zu lange geduldet haben. Und wer ihm alles nachgesungen hat. Primitiv. Immer dieselbe Leier, immer das gleiche Klischee: Schlapphut, Ledermantel … Wird ihnen noch vergehen das Lachen, wenn wir den Sack aufmachen. Staunen wird das Pack über unseren Fleiß und darüber, wer alles von uns zum Fleiß erzogen worden ist. Ne Menge Namen, einzelne und im Dutzend. Wir liefern auf Wunsch und frei Haus. Wahrheiten, lauter Wahrheiten! Wir füttern sie ab. Sollen sich gegenseitig fertigmachen, wir helfen gern nach. Wir sind nicht am Ende! Noch lange nicht, weil wir und unser Gedächtnis – na, Sie wissen ja, Fonty, wie weit zurück wir nichts auslassen – ne ganz besondere Methode des Speicherns entwickelt haben. Außerdem sind wir die einzigen, die, wie unsere Kollegen von drüben, immer an ein einziges und einiges Deutschland geglaubt haben. Und das kriegen wir bestimmt. Ehrenwort, Wuttke! Mit unserer Hilfe schafft das die Treuhand: ein armes, aber gleichgemacht armes, ein in Armut geeintes Deutschland, das jetzt schon nach ner neuen Ordnung und nach Sicherheit hungert, denn wenn der Osten überläuft, weil die Grenzen nicht dicht … Oder ein richtiger Ökokollaps … Sowas wie Tschernobyl hoch drei … Und wenn sonst überall in der Welt nur noch Krisen, Gemetzel, Flüchtlingsströme … Dann werden wir wieder gefragt sein. Mit ganz neuen Methoden werden wir fugendicht, umfassend, leise, weltweit … Aber was rede ich. Das macht die Grube hier, dieses Loch, daß man redselig wird. Ist ja auch ne Gelegenheit, dieser Blick auf immer tiefere Schichten. Meine damit. was alles unter der Oberfläche ablagert, nicht nur geologisch das bißchen Kohle, sondern im tieferen Sinn, sozusagen metaphysisch betrachtet … Denn was wir brauchen, Wuttke, ist ne neue Sinngebung. Außerdem stand heut vor nem Jahr plötzlich die Mauer offen. Und wir -Ehrenwort! -haben den Riegel gelockert …« Fonty wartete ein Weilchen, aber von Hoftaller kam nichts mehr außer Luftholen und Schnauben. Bis zum Horizont näßte der Himmel durch. Alles grau, fein gestrichelt. »Es regnete tapfer«, stand in dem Brief an Martha Grundmann geschrieben; und in der Tat, der Schirm blieb aufgespannt. Als wollte er dem verstummten Redner helfen, lieferte jetzt Fonty Stichwörter: »Sie wollen mal wieder auf die Unsterblichkeit raus, stimmt’s? Lassen wir das. Braunkohle ist unsterblich genug. Wie ihrerzeit Tante Pinchen, heizt meine Emilie damit einen Kachelofen und das Kanonenöfchen in meiner Studierstube; das heißt, sie muß Winter für Winter drei Stockwerke hoch Briketts aus dem Kohlenkeller schleppen, zwei Eimer voll. Stimmt schon, ist eine elend lange Geschichte vom Entstehen in Urzeiten bis heute, zum Endverbraucher. Aber was heißt Ende, wo doch alles mögliche in die Luft abgeht, um sich aus ziemlicher Höhe und in neuer Gestalt an unseren blauen Planeten zu erinnern. Jedenfalls begann sich unser abbauwürdiges Produkt in der jüngeren Kreidezeit oder noch früher zu entwickeln, als hier aus abgestorbenen Pflanzen … Zeiträume sind das … Aber nun wollen wir endlich. Der Trabi wartet auf uns. Der ist zwar auch von vorgestern, aber unsterblich bestimmt nicht …«
    Dem Archiv ging das zu schnell. Uns wären weitere Variationen zum Thema Unsterblichkeit eingefallen. Zum Beispiel hätten wir Fontys Auskunft über die mit Braunkohle oder minderwertigem Kohlegrus beheizten Öfen ergänzen können. So heizte man nicht nur in der Kollwitzstraße, sondern überall im Bezirk Prenzlauer Berg. Ganz Ostberlin war

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