Ein weites Feld
diese Befeuerung sicher; und auch das Archiv bezog seine Stubenwärme aus einem Brennmaterial, das mal vorrätig, mal knapp war. Es hätte von einem anhaltend überheizten Zustand im Arbeiter- und Bauern-Staat die Rede sein können, denn ohne Braunkohle, was heißen soll, ohne den Tagebau in der Lausitz und anderswo, wäre er nicht auszudenken gewesen; und doch sollte man ihm, nur weil uns seine Schadstoffe überdauern werden, keine Immortellenkränze flechten. Deshalb standen die beiden unter einem Schirm am richtigen Ort, als Hoftaller seine Novemberrede hielt. Und im richtigen Moment klatschte Fonty Beifall, und zwar mit beiden Händen, weil er sie frei hatte, während Hoftaller, der mit dem rechten Zeigefinger immer wieder in die Grube und auf die dort abgelagerte Unsterblichkeit wies, linkshändig den Schirm halten mußte. Im Brief an Martha stand, sein Beifall habe einer »Rede am Abgrund« gegolten. »Keiner meiner Pastoren hätte das besser gekonnt, vielleicht Schleppegrell, aber der war Däne und – was Deutschland betrifft – zu weit weg vom Schuß. Oder Lorenzen, der hätte sich womöglich, als Dubslav von Stechlin zu Grabe getragen wurde, zu einer visionären Beschwörung hinreißen lassen. Bestimmt nicht Pastor Seidentopf, als gegen Ende von ›Vor dem Sturm‹ die alte Hexe, Hoppenmarieken, samt Hakenstock und Wasserstiefeln in die Grube kam. Nein, mein alter Kumpan war nicht zu übertreffen. Er konnte kein Ende finden. Habe ihn mit vorzeitigem Beifall stoppen müssen …«
»Vortrefflich, Tallhover!« rief Fonty. »Das haben Sie gut gemacht. Nicht nur Deutschland kommt so, arm, aber sauber, wieder zu Geltung, sogar die Auferstehung der Staatssicherheit ist Ihnen gelungen. Ruhig können wir alle finalen Katastrophen abwarten. Bis zum Schluß wird man uns absichern. Glückwunsch, Hoftaller. Ist furchtbar richtig alles.
Aber den Schirm müssen Sie auch mir gönnen. Bißchen mehr noch. Bin schon ganz abgeduschuscht.«
Dann erst gingen sie. Unser prinzipielles Dabeisein erlaubt ein Schlußbild; das ist das Gute am Prinzipiellen: Immer hat man das letzte Wort, immer bleibt, inmitten Untergang, das Prinzip übrig, natürlich das richtige.
Als sie gingen, gaben sie zu zweit abermals jenes Bild ab, das seit Fontys von uns notiertem Besuch auf dem französischen Friedhof feststeht. Damals, als er am Grab des Unsterblichen stand, am Friedhofstor erwartet und, weil es regnete, mit aufgespanntem Schirm abgeholt wurde: zwei alte Männer unter einem Regenschirm. Diesmal kam es zur Bilderfolge. Das sich von der Braunkohlengrube entfernende Paar zerfiel in Bildabschnitte. Vorbei an der Frauenklinik Altdöbern zog eine Kolonne, die paarweise ging, und jedes Paar beschirmt. Nach vorne hin schrumpften sie zu immer kleinerem Format. Von hinten gesehen, nahmen sie schmächtig neben breitschultrig -Abstand zueinander, doch zur Kolonnenspitze hin verschmolz Rücken mit Rücken. Die schwarzen, vom seitlichen Wind geblähten Mäntel, die schwarzen Hüte unter schwarzen Schirmen verblaßten, je winziger sie in Richtung Kirchplatz vorankamen: ein Leichenzug, der keinem Sarg folgte. Wir blieben ihnen hinterdrein, vorbei an der gepflegten Friedhofsanlage und den unterm Sprühregen glänzenden Grabsteinen, in deren Sichtfläche die Namen von drei Dutzend Soldaten der Roten Armee gemeißelt standen. Wir schlossen uns der Prozession an, bis sie sich am Parkplatz vor der Einfahrt zum Schloß auflöste oder besser: verflüchtigte. Nur ein übriges Paar war uns sicher, als Hoftaller seinen Patentschirm abschüttete, verkleinerte, worauf sich beide in den Trabi setzten. Im Brief an Martha steht weiterhin: »Während der Rückfahrt kamen die Scheibenwischer nicht zur Ruhe. Wie geborgen saßen wir nebeneinander. Und dann, kaum auf der Autobahn, fing mein Kumpan an zu singen. Den Gassenhauer von anno Tobak, ›Mutter, der Mann mit dem Koks ist da‹, sang er mit Inbrunst bei strömendem Regen. ›Ich hab kein Geld, du hast kein Geld, wer hat den Mann mit dem Koks bestellt …‹ Vorbei an Baustellen und trotz Gegenverkehr, sangen wir bis kurz vor Berlin schließlich zu zweit: ›Mutter, der Mann mit dem Koks ist da …‹«
26 Ein Zimmmer mit Tisch
Sein Brief an Martha schloß mit Klagen über beginnenden Schnupfen und trockenen Bellhusten, eine sich seit dem Besuch der Niederlausitz ankündigende Nervenpleite und war schließlich ganz auf Lamento gestimmt: »… außerdem lärmt neuerdings zu Hause ein kunterbunt laufendes
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