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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Schornstein der Schnapsfabrik verstopfte ein leeres Storchennest. Sie parkten den Trabi vor der Einfahrt zum Schloß, dessen Fassade hinter einem vergessenen Baugerüst bröckelte. An Martha schrieb Fonty: »Irgendwann wird sich gewiß ein Erbe aus Preußens versprengtem Adel melden und selbst hier, wo nichts mehr zu holen ist, knöchelhart anklopfen …« Nur wenige Schritte vom Kirchplatz und dem noch immer gepflegten Friedhof für drei Dutzend zum Schluß gefallene Soldaten der Roten Armee entfernt, gleich hinter der Frauenklinik und ihrem novemberlichen Garten, in dem Kohlköpfe in Reihe lagen, nach letzten Schritten seitlich der übriggebliebenen Chausseebäume, brach die Erdkruste ab. Ihr Blick sprang über Riesenstufen zur Grubensohle, sah schwarzpolierte Spiegelflächen hier ausufernder, dort tümpelgroßer Grundwasserseen, auf die gruppierte Abraumhalden ihr Bild warfen. Sie hätten gestaffelte Bergketten zählen können, doch keine der kegeligen Spitzen des Mittelgebirges überragte den Grubenrand, den Hoftaller und Fonty grad dort besetzt hielten, wo jene schmale, aber asphaltierte Landstraße endete, die vormals zwischen Roggen- und Rübenfeldern auf vier Kilometer Länge das Städtchen Altdöbern mit einem Dorf namens Pritzen verbunden hatte. Sie hätten auch woanders am Grubenrand stehen können. Abgrund war überall. Hier, hier und dort sehen wir sie als Paar vervielfältigt, dicht bei dicht und hintereinander gestaffelt, in Mänteln und unter Hüten, von verschiedenem Wuchs, hundert und mehr Tagundnachtschatten mit Objekt, gedrängt und gefährlich nah an den Rand geschoben; doch standen sie in solcher Anhäufung nur im Prinzip, in Wirklichkeit aber allein. Auf all das drückte ein tiefer Himmel, dessen Wolken übersättigt zu sein schienen, denn in der Ferne, wo sie als Säcke durchhingen, regnete es in Schleiern ab; sonst geschah nichts. »Da, sehen Sie, Wuttke! Die paar übrigen Häuser. Das ist Pritzen, wie ich versprochen habe. Von hier aus gesehen, kriegt man ne Ahnung, was das heißt: Tagebau, Braunkohle, malochen. Haben unverschämtes Glück gehabt, daß man Sie vierundfünfzig, gleich nach dem Kulturbundkongreß, nicht in die Produktion gesteckt hat, weil Sie meinten, ne Lippe riskieren zu müssen, und zwar im Rückblick auf die Juniereignisse vom Vorjahr, vermengt mit reaktionären Sprüchen aus Zeiten der achtundvierziger Revolution: ›Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!‹ Und mehr Provokationen, die Ihnen wenigstens ein Jahr Braunkohle hätten einbringen können. Ja, gucken Sie nur, Wuttke! Man sieht, wenn man genau hinguckt, nicht nur schwarzes Gold, ne Menge Zukunft sieht man. Man starrt in das Loch und ahnt, was sein wird, na, was kommt. Das, nur das bleibt von uns. Vom Produkt befreit, ganz und gar ausgemergelt und feingesiebt, ausgebeutet werden wir menschlicher Abraum sein, kleine und größere Kegel, die sich ein bißchen spiegeln dürfen, da, sehen Sie, Wuttke, im Grundwasser, das kein Lüftchen kräuselt ganz unten, auch wenn es hier oben bläst. Und das bis zum Horizont: säuberlich aufgeschüttet, in Reihe gebracht. Sortierter Rest und Abraum der Geschichte. Ach, Wuttke, was hat man aus uns gemacht? Was haben wir aus uns machen lassen? Traurige Überreste. Nur noch Rückstände sind wir, allenfalls Schrott wert. Altlasten nennt man uns. Los, Fonty! Hinsehen! Sieht man nicht alle Tage so deutlich. Was heißt hier Schwarzseherei? Ist doch von Ihnen der Spruch: Wenig hoffen ist immer gut …« Hart an der Abbruchkante der Erdkruste stand Hoftaller. Als wollte er diesen oder jenen Abraumkegel antippen, deutete er mit dickem Zeigefinger an kurzem Arm in die Grube. Das waren seine neuen Töne: Zerknirschung, Selbstbeschau, endzeitliche Beschwörungen, laßt fahren dahin, Schuld-und Freisprüche zugleich.
    Auf dem restlichen Stummel der Landstraße nach Pritzen stand er breitbeinig, im wehenden Mantel, mit Hut, wie Fonty mit Hut und in fliegendem Mantel stand. Und schon sehen wir sie wieder in Vielzahl, gedrängt und klumpig als Gruppe. So wunderbar vermehrt, gehorchen ihre Mäntel dem steifen, mitunter böigen Wind. Man könnte meinen, gleich trägt es sie fort, mit geblähtem Segel über den Abgrund, die Grundwasserseen, die Abraumkegel hinweg, bis zum Horizont und weiter. Doch als sie uns wieder zum vereinzelten Paar wurden, hatte sich etwas in ihrer Stellung hart an der Kante verändert. Fonty stand abgewendet. Er wollte nicht in den Abgrund schauen, wollte nicht in die Grube

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