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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Fernsehprogramm, vor dem Mama in Andacht versinkt. Und noch schlimmer: mit ihren Gören kommt von nebenan die Scherwinski zum Glotzen. Bis in meine Studierstube dringen munteres Gequatsche und aggressiver Lärm. Da ist kein Bleiben. Doch wo soll ich meine Briefschulden, etwa an Professor Freundlich, abtragen? Bei diesem Wetter laufe ich nur ungern die Potsdamer hoch, um mich mit meiner Rotznase in die Imbißstube zu setzen. Was mir fehlt, ist ein ruhiges Zimmer …« Und wenn er zu uns ins Archiv kam, klagte er mit ähnlichen Worten über das nervige Mattscheibenprogramm, die plapprige Nachbarin, die seiner Brieflaune fehlende Ruhe. Hoftaller, der uns besuchte, um sich gleichfalls »rein menschlich« auszujammern – »Kürzlich standen wir in der Lausitz sozusagen am Abgrund« –, bestätigte Fontys Notlage: »Ach was, das bißchen Schnupfen vergeht. Doch was unser Freund unbedingt braucht, ist ein Dienstraum mit ner festen Schreibunterlage.« Es blieb beim Wunsch. Zwar wurde Theo Wuttke wegen seiner Denkschrift gelobt, zwar war es ihm gelungen, den Hausherrn der Treuhand für den Erhalt des Paternosters zu gewinnen, auch stand er, obgleich der Umzug dieser Behörde erst für Ende Februar vorgesehen war, bereits auf deren Gehaltsliste, doch das ihm zugesprochene Dienstzimmer war nicht bezugsfertig. Vielleicht hat der Umstand, daß sich der ehemalige Aktenbote allzu offensichtlich jenseits der Pensionsgrenze befand und deshalb nur als »freier Mitarbeiter« angestellt war, diese Verzögerung begründet; ein ähnlich einschränkender Arbeitsvertrag verpflichtete den gleichfalls pensionsreifen Tagundnachtschatten zur Mitarbeit in Diensten der Treuhand. Doch darüber klagte Fonty nicht. Freie Mitarbeit entsprach seinem Geschmack; nur die vier Wände fehlten ihm. Und mehr als zufrieden gab er sich mit dem monatlich ausgezahlten Fixum von zweitausend Mark. Außerdem war es Hoftaller, dank seiner Tätigkeit in der Personalabteilung, gelungen, für sich und Fonty den, wie er sagte, »im Westen üblichen Sozialklimbim«, Weihnachtszulage, Urlaubsgeld und so weiter, zu sichern. Gründe genug gab es für Fonty, »ein positives Gesicht zu schneiden« und dem Archiv zu bestätigen: »Abgesehen vom fehlenden Zimmer und dem Verschleiß an Tempotaschentüchern, geht es mir geradezu polizeiwidrig gut.« Und wenn man das Fernsehen für Momente abschaltete, war sogar zu Hause Schönwetter angesagt; für Emmi Wuttke rechnete sich das Fixum als beträchtliches Zubrot und Aufbesserung ihrer Rente. Sie sah sich auf einem Treppchen zu beginnendem Wohlstand und lobte die Treuhand als »hochanständig«. Zu Inge Scherwinski konnte sie sagen: »Mein Wuttke is jetzt bei der Treuhand.« Oder: »Auf meinen Wuttke hat die Treuhand nich verzichten gekonnt.«
    Sobald sie auf unsere Frage hin ausführlicher wurde, erfuhren wir über den Wohltäter Treuhand: »… als er noch Aktenbote war, konnten wir uns nen Fernseher nich leisten. War einfach nich drin. Außerdem war mein Wuttke gegen das Glotzen. Aber jetzt hab ich nich viel gefragt, sondern auf Abzahlung … In Farbe natürlich … Nur verkabelt sind wir noch lange nich … Mir reichen aber die paar Programme.
    Und unsre Nachbarin, die Scherwinski, das arme Luder mit ihren drei Gören, hat auch was davon. Nee, mein Wuttke guckt immer noch nich.« Wir hätten antworten sollen: »Schlimmer, viel schlimmer«, denn die Glotze trieb Fonty selbst bei Schlechtwetter aus dem Haus. Weil aber im Tiergarten wie im Volkspark Friedrichshain Novembernässe alle Bänke besetzt hielt, wurde die Treuhand sein eigentliches Zuhause, selbst wenn dort wenig Arbeit anfiel. Gelegentlich mußte er aus Bonn angereiste Parlamentariergruppen durch den Baudreck und über Korridore lotsen oder einer extra vom Bundesrechnungshof geschickten Prüfungskommission seine zur Denkschrift ausgearbeitete Eingabe »Zum Erhalt des Paternosters« erläutern. Man lächelte, wenn der alte, seines würdigen Aussehens wegen respektierte Mann den unablässig bemühten Personenaufzug ein »Symbol der ewigen Wiederkehr« nannte oder vergleichsweise Sisyphos ins Spiel brachte. Ängstlichen Besuchern half er in die auf- oder abwärts fahrenden Kabinen. Junge Damen, die befürchteten, nach versäumtem Ausstieg im siebten Stock abwärts kopfunten fahren zu müssen, verführte er mit vorgestrigem Charme, an seiner Seite das Wagnis einer ununterbrochenen Auf- und Abfahrt einzugehen. Endlich konnte sein in früheren Jahren gern ausgespielter Hang

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