Ein Winter mit Baudelaire
gestellt, ein verkrampftes, beschämtes Lächeln verzerrt die Gesichter wie ein Bollwerk. Wer toleranter ist oder nicht ganz so abgebrüht, nimmt einen anderen Waggon. Entweder – wenn er die Gefahr noch auf dem Bahnsteig erkannt hat – schon vor dem Einsteigen oder – wenn ihm das lästige Subjekt zu sehr auf die Pelle rückt – an der nächsten Station.
In den Bahnhöfen sind sie zahlreicher anzutreffen, etwa in Saint-Lazare, wo Philippe aussteigt. Größere Menschenansammlungen bieten mehr Möglichkeiten oder zumindest die Hoffnung darauf. Sie sind zahlreicher anzutreffen, aber sie werden auch weniger wahrgenommen. Die auf Uhren und Anzeigetafeln gehefteten Blicke gleiten an ihnen ab, umin banger, blinder Hast einem Termin, einem Taxi, einer Zugverbindung hinterherzueilen.
Philippe hat gerade noch Zeit, sich einen Fahrschein zu kaufen und in letzter Sekunde in den Zug zu springen, hin zu seinem früheren Zuhause im Vorortgürtel. Er betrachtet die Fassaden der mit Graffiti übersäten Häuser, die wie stumme Schreie anmuten. Der Zug ruckelt über die Weichen, bis er an Fahrt gewinnt und die Stadt hinter sich lässt.
Es war einmal
Die Straße ist noch nicht ganz verlassen. Auf einer Wiese spielen die Schatten zweier Kinder Fußball. Die Zigarette rauchende Silhouette eines Mannes bringt den Müll nach draußen. Ein Hund überquert die Fahrbahn. Es ist fast dunkel, die Luft ist lau.
Aus den halb geöffneten Fenstern dringen Geräusche von Menschenleben, die sich täglich berühren, ohne sich zu begegnen. In wirren Spiralen entweichen sie, wirbeln einen Moment über dem Asphalt und steigen zum Himmel hinauf, um sich dort im fernen, erstickten Getöse der Stadt zu verlieren. Gesprächsfetzen verklingen in der Dämmerung. Gegenüber brummt eine Geschirrspülmaschine. Weiter oben wird ein Kosewort in ein verliebtes Ohr geflüstert, weiter unten dem Gefährten eine Beleidigung ins Gesicht geschleudert wie eine Granate oder gemurmelt wie ein befreiendes Gebet.
Philippe schaut sich aufmerksam um. Nichts hat sich verändert, und doch ist alles so anders. Hinter den Fenstern des Hauses, in dem er noch vor zwei Wochen gewohnt hat, ist gerade das Licht angegangen. Es ist 21 Uhr. Sandrine wird Claire gleich ins Bett bringen.
Er nimmt sein Handy aus der Jackentasche und ruft an. Nach dreimaligem Klingeln nimmt Sandrine ab.
»Hallo?«
»Ich bin’s …«
»…«
»Wie geht’s? Gut nach Hause gekommen?«
»Ich gebe dir Claire.«
Philippe sieht zu den erleuchteten Fenstern seiner Tochter hinauf. Das Geräusch klappernder Absätze, dann die dumpfe Stimme seiner früheren Frau, die den Hörer offensichtlich weit von sich hält, als wollte sie sich nicht damit beschmutzen: »Dein Vater.«
»Papa!«
»Nicht so lange, du hast morgen Schule.«
»Ja, Mama …«
Eine kleine Hand ergreift den Hörer, während sich Sandrines Absätze entfernen.
»Hallo, Papa?«
»Meine kleine Prinzessin! Wie geht es dir?«
»Erzählst du mir eine Geschichte?«
Und Philippe erzählt ihr – ausführlicher als sonst – ihre Lieblingsgeschichte. Als er fertig ist, herrscht Schweigen in der Leitung.
»Bist du noch da, kleine Prinzessin?«
»Papa?«
»Ja?«
»Stimmt es, dass du nie mehr nach Hause kommst?«
»Ich … Wer hat dir das gesagt?«
»Großmama und Großpapa …«
Philippe beißt sich auf die Unterlippe und geht ein paar Schritte über den Asphalt.
»Papa?«
»Ja, meine kleine Prinzessin, ich bin da …«
»Ist das wahr oder nicht?«
Claires Stimme zittert unmerklich. Die von Philippe auch
.»Wahr ist, dass ich immer kommen werde, um dich zu besuchen. Einverstanden?«
Claire antwortet nicht, aber Philippe kann hören, dass sie nickt.
»Und du wirst mich auch besuchen, hoffe ich … Sobald Papa eine Wohnung gefunden hat … Ja? In Ordnung?«
Das gleiche Schweigen, das gleiche zustimmende Rascheln.
»Gut, meine kleine Prinzessin, ich muss jetzt aufhören … Gibst du mir noch mal kurz die Mama?«
»Papa?«
»Ja, Prinzessin?«
»Du wirst immer mein Sternenprinz sein …«
Philippe schließt die Augen, atmet tief ein und aus.
»Ich hab dich lieb, meine kleine Prinzessin …«
Claires Schritte hallen durch den Flur. Dann Sandrines müde, desinteressierte Stimme: »Was hast du ihr jetzt schon wieder erzählt?«
»Was vor allem haben ihr deine Eltern erzählt? Konnten die nicht einfach mal ihre Klappe halten?«
»Hör zu …«
»Also ehrlich, seid ihr alle nicht mehr ganz richtig im Kopf?«
»Oh,
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