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Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harold Cobert
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das musst du gerade sagen …«
    »Wie bitte?«
    »Claire kommt langsam in ein Alter, in dem ein Kind Dinge verstehen kann. Sie darf also ruhig alles hören. Meinst du nicht?«
    »Scheusale seid ihr … Du und deine Eltern … Scheusale!«
    »Du gehst mir auf die Nerven.«
    Klack, sie hat aufgelegt.
    Philippe ruft sofort zurück. Besetzt. Er versucht es wieder. Besetzt. Er wählt die Nummer von Sandrines Handy. Mailbox.
    »Scheiße!«
    Angespannt geht Philippe auf dem Bürgersteig hin und her, bis er entschlossen auf sein früheres Zuhause zumarschiert, dann doch wieder stehen bleibt, eine Zigarette anzündet, sich nervös mit der Hand durchs Haar fährt und dabei den Rauch ausatmet.
    Er betrachtet die Fenster vor dem Zimmer seiner Tochter. Das Licht dahinter erlischt.
    Sekunden später gehen die Straßenlaternen an.

An der Peripherie
    Eine Woche lang verlässt er sein Hotelzimmer praktisch nicht. Er hat für zehn Tage im Voraus bezahlt. Wenn er sich nicht gerade mit Lebensmitteln versorgen muss, bleibt er im Bett, um zu zappen, zu schlafen, zu essen, zu zappen, zu schlafen, zu essen, zu zappen. Zu schlafen.
    An einem Abend ruft seine Mutter an: »Ich bin’s, Mama … Ich wollte nur mal nach dir hören.« An einem anderen ist es Jérôme, der ihm vorschlägt, sich am folgenden Wochenende zu treffen. Er nimmt die Anrufe nicht an, hört nur die Nachrichten ab und löscht sie, ohne zurückzurufen.
    Im Zimmer stapeln sich kalte, erstarrte Essensreste, zerquetschte Hamburger-Schachteln, Kartons mit angeknabberten Pizzastücken, angebrochene Chipstüten, Cola- und Bierdosen, leer oder halb voll, zerknüllte Zigarettenschachteln und Kippen, in den Verpackungen zerdrückt. Spät in der Nacht oder sogar erst am frühen Morgen findet er in den Schlaf, steht meist zum Nachmittag hin auf und hindert das Hotelpersonal daran, sein Zimmer zu säubern.
    Am Freitag ruft Sandrine an. Philippe geht nicht ans Telefon. Sie hinterlässt eine Nachricht.
    »Ich wollte dir nur sagen, dass du deine Handyrechnung und die Bescheinigung über deinen Führerscheinentzugbekommen hast. Na ja, das ist ja jetzt nicht mehr mein Problem. Kümmer dich schnell um einen Nachsendeantrag und sag mir, wohin ich den ganzen Kram schicken soll.«
    Philippe zappt weiter. Am nächsten Abend wieder ein Anruf. Er lässt das Handy klingeln, bis die Mailbox angeht.
    »Ich noch mal, wegen deiner Post.«
    Philippe stellt den Fernseher lauter. Bis vier Uhr morgens zappt er durch Reality-Shows, Polit-Diskussionen und nächtliche Spielfilm-Wiederholungen, bis er in Schlaf versinkt.

Kafkas Epigonen
    Montag, später Vormittag. Rasiert, gewaschen und ordentlich gekleidet betritt Philippe das Arbeitsamt des Bezirks, in dem er früher gelebt hat. Mindestens fünfzehn Personen sitzen auf Plastikstühlen, in der Hand ein kleines Stückchen Papier, auf dem eine Nummer steht. Ihnen gegenüber thront eine Frau auf einer Art Barhocker hinter einem Stehpult. Sie liest in einer Frauenzeitschrift. Über ihr, leicht im Hintergrund, zeigt eine digitale Zähluhr die Nummern der aufgerufenen Personen an. Dahinter ein Büro, das durch Trennwände aus Plexiglas in boxenartige Kabinen unterteilt ist.
    Philippe geht auf die Frau zu.
    »Guten Tag …«
    Sie hebt mit fragender, etwas unwirscher Miene den Blick von einer Doppelseite, auf der über die Affäre eines berühmten Schauspielers mit einer Sängerin berichtet wird, die gerade durch eine Reality-Show Berühmtheit erlangt hat.
    »Ich würde gern mit einem Berater sprechen, ist das möglich?«
    »Ziehen Sie sich da hinten eine Nummer.«
    »Dort?«
    Als einzige Antwort vertieft sich die Frau wieder in ihre Lektüre.
    »Danke.«
    Philippe zieht einen Zettel mit der Nummer 74. Er schaut zur Digitalanzeige: 53.
    Alle Stühle sind besetzt. Philippe wartet die nächste Nummer ab und nimmt den frei gewordenen Platz. Er sieht sich um. Jeder der Anwesenden hat eine Mappe in der Hand oder auf dem Schoß.
    Im Viertelstundentakt kommen Männer und Frauen aus dem Raum hinter der Empfangsdame. Aber der Rhythmus, in dem die Nummern aufgerufen werden, verlangsamt sich zusehends. Philippe schaut auf seine Armbanduhr: Es geht auf Mittag zu.
    Endlich erscheint die 74 auf der Anzeige. Rechts da neben verweist ein »H« auf den entsprechenden Schalter. Philippe erhebt sich und geht hin.
    Ohne von seinem Computer aufzusehen, bedeutet ihm ein Berater, Platz zu nehmen. Auf seinem Schreibtisch steht ein kleines Schild mit der Aufschrift »Jean-Pierre

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