Ein Winter mit Baudelaire
Philippe regungslos, wie angewurzelt vor ihm.
»Den Spaß gönne ich dir nicht: Ich kündige!«
François schlägt leise pfeifend eine Akte auf und tut so, als existierte der andere schon nicht mehr. Verächtlich verzieht Philippe den Mund, mustert seinen Chef angewidert und marschiert aus dem Büro.
Er geht zu seinem Schreibtisch, sammelt seine Sachen ein, hinterlässt seine Kündigung. Die anderen wechseln stumme Blicke. Niemand sagt ein Wort.
Toter Punkt
Hauptverkehrszeit. Die Metro kommt an einem überfüllten Bahnsteig zum Stehen. Es folgt ein absurdes Gerangel, bei dem die hineinstrebenden Menschen die Aussteigenden zurückdrängen. Entnervte Seufzer, Schulterstöße, aufgebrachtes Murren, gequetschte Füße, gezischte Beleidigungen. Auf dem Boden sollen gelbe Linien und Pfeile dafür sorgen, dass der Ein- und Ausstieg der Fahrgäste reibungslos nach dem physikalischen Prinzip der kommunizierenden Röhren vonstatten geht. Dem Herdentrieb haben diese Pfeile jedoch nichts entgegenzusetzen.
Philippe steigt aus dem Waggon und lässt sich vom anonymen Strom der Menge an die Oberfläche spülen.
Draußen ist die Luft lau. Das Licht weich. Bei seinem spektakulären Abgang aus dem Büro hat Philippe auch den Dienstwagen zurückgelassen, ein anderes Fahrzeug besitzt er nicht.
Er läuft. Lange. Ringsum werden die Röcke kürzer, die Dekolletés tiefer. Pullover werden ausgezogen und lässig über die Schultern gelegt oder um die Hüften geschlungen. Ein Hauch von Unbeschwertheit liegt in der Luft, weht über die Straßen und Gehwege, die von Spaziergängern bevölkert sind, eine Sorglosigkeit, die zur wachsenden Leichtigkeitin Sachen Bekleidung passt. Er hat keinen Führerschein mehr. Das Handy am Steuer und der nicht angelegte Sicherheitsgurt haben ihm die Punkte eingebracht, die noch fehlten. Jetzt ist er ein Handelsvertreter, dem das Handwerkszeug fehlt. Es ist ein schöner Abend, der erste in diesem Frühling, an dem man spürt, dass der Sommer naht.
An einer Straßenecke steigt er wieder in die Metro hinab. Ohne auf den Plan zu schauen, nimmt er die Linie in Richtung Gare Saint-Lazare.
Die Stoßzeit ist vorbei. Die Züge kommen in größeren Abständen und werden nicht mehr von einer launischen Menge gestürmt. Klappsitze bleiben frei. Sogar Sitzplätze in den Viererkarrees. Die Fahrgäste sind ruhiger. Die Gesichter nicht mehr so verkrampft und angespannt, nur noch glatt und verschlossen wie Wachsmasken. Die Menschen sind auf dem Heimweg oder gehen aus, um sich mit Freunden zu treffen, ins Kino, Theater, Restaurant zu gehen oder zu sammen ein Bier zu trinken. Sie lesen die Zeitung oder ein Buch, hören Musik oder lassen gedankenverloren ihre Blicke schweifen.
Philippe muss dreimal umsteigen, ehe er die Anschlussstelle zu dem Zug erreicht, der ihn aus der Hauptstadt bringen soll. Hin und wieder steigen Obdachlose unterschiedlichen Alters und unterschiedlichster Herkunft zu. Manchmal im Abstand von nur wenigen Stationen. Die Saubersten unter ihnen verkaufen Zeitungen, singen oder machen Musik. Allein oder zu zweit schleppen sie manchmal einen Verstärker auf Rädern hinter sich her und erzeugen ein lautes Durcheinander von wenig melodiösen Tönen. Manche führen eine gut einstudierte Nummer vor, präzise abgestimmt auf die Metrolinie, auf der sie tätig sind. Nach vier oder fünf Stationen, das heißt zwei oder drei Stücken,steigen sie in den nächsten Wagen um. Andere können kein Instrument spielen oder haben einfach nicht mehr die Kraft, auch nur zu versuchen, ihre Mitstreiter auf dem Feld der Barmherzigkeit zu übertrumpfen. Die Litanei des Elends ist immer die gleiche: keine Stütze mehr, unterhaltsberechtigte Kinder, Berufsunfähigkeit, sauber bleiben, im Warmen schlafen, essen, überleben. Oft gelingt es der müden, gebrochenen Stimme nicht, das Kreischen der Räder und Schienen zu übertönen, und sie verliert sich in der allgemeinen Gleichgültigkeit. Andere haben den Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, schon längst überschritten. Vom Asphalt gezeichnete und vom Rotwein aufgeschwemmte Gesichter, schwielige, vor Dreck starrende Hände, die Sprache ein schmieriges, zusammenhangloses Grummeln, säuerliche Gerüche nach Schweiß und ungewaschenen Füßen, Gerüche, die ekeln und noch lange danach in der Luft hängen. In allen Fällen die gleiche Reaktion: Die Blicke weichen aus, versenken sich in ein Buch, eine Zeitung, die bis dahin noch nicht aufgeschlagen war, MP3-Player werden lauter
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