Ein Winter mit Baudelaire
liebkosen.
»Ist er nicht.«
Sandrine dreht sich um: Vor ihr steht Philippe in seiner seltsam zusammengewürfelten, ärmlichen Kleidung. Als Claire die Stimme ihres Vaters hört, hebt sie den Kopf.
»Papa!«
Sie wirft sich in seine Arme. Philippe hebt sie hoch und küsst sie.
»Meine kleine Prinzessin!«
»Mama hat gesagt, du hast uns verlassen …«
»Niemals, meine kleine Prinzessin, niemals …«
»Was ist das?«, fragt Claire und zeigt auf seinen Bart.
»Nichts, ich werd’s dir erklären …«
Sie zieht an seinen Barthaaren.
»Aua!«
Er stellt sie wieder auf den Boden. Sie deutet auf Baudelaire.
»Ist das deiner?«
»Ja. Er heißt Baudelaire.«
Baudelaire kommt zu ihnen und setzt sich dazwischen.
»Dürfte ich erfahren, was das soll?«, fragt Sandrine trocken.
Philippe richtet sich zu seiner vollen Größe auf.
»Ich freue mich auch, dich zu sehen. Ich denke, wir müssen ein paar Dinge klären …«
»Ich habe dir nichts zu sagen …«
»Oh doch, das hast du …«
Er wendet sich an Laurent.
»Bist du in Begleitung gekommen, weil du Angst vorm bösen Wolf hattest?«
Er reicht ihm die Hand.
»Philippe, Claires Vater …«
Laurent betrachtet die ausgestreckte Hand, dann verschränkt er die Arme.
»Ihr beide scheint euch ja wirklich gesucht und gefunden zu haben«, sagt Philippe mit einem Seitenblick zu Sandrine.
Laurent macht Anstalten, auf Philippe loszugehen, doch der bremst ihn mit erhobener Hand.
»Tu’s lieber nicht«, sagt er und deutet auf Baudelaire. »Er ist lieb, solange man auch lieb zu mir ist …«
Laurent schweigt. Philippe wendet sich wieder zu Sandrine.
»Soll ich dich auf einen Kaffee einladen?«
»Nein, ich glaube nicht …«
»Ich glaube doch!«
»Nein, nach allem, was du meinen Eltern angetan hast.«
»Was ist denn mit Großpapa und Großmama?«
»Nichts, meine kleine Prinzessin. Mama hat mir einen Brief geschrieben, um mir zu sagen, dass ich dich nie wiedersehen werde, und deshalb bin ich zu ihnen gegangen, um zu erfahren, wo ihr hingezogen seid und wo deine neue Schule ist …«
»Okay«, unterbricht ihn Sandrine, »dann trinken wir jetzt halt schnell einen Kaffee, aber du hältst sofort den Mund …«
»Hast du mir nicht gesagt, dass sie langsam in das Alter kommt, in dem ein Kind Dinge verstehen kann?«
»Hör auf!«
Philippe dreht sich zu Claire um.
»Papa und Mama gehen jetzt in das Café dort an der Ecke, damit wir uns unterhalten können, kleine Prinzessin. Kannst du solange auf Baudelaire aufpassen?«
Claire nickt begeistert.
»Und dich bitte ich nicht, uns zu begleiten«, zischt Philippe in Laurents Richtung.
»Warte im Auto auf uns«, sagt Sandrine zu ihrem Freund.
»Es wird nicht lange dauern.«
»Das hängt allein von dir ab«, bemerkt Philippe, während er mit ihr auf das Café zugeht.
Liebesgeflüster
Sie sitzen einander gegenüber. Der Kellner stellt jedem eine Tasse Kaffee sowie ein Glas Wasser hin und zieht sich zurück. Philippe reißt das Zuckertütchen auf und schüttet den Inhalt in seine Tasse, während er durch die Glasscheibe nach draußen sieht. Er lächelt. Auf dem Bürgersteig vor der Schule ist Claire von Kindern umringt. Alle spielen mit Baudelaire, werfen ihm Bälle zu, die er zurückbringt, oder schmücken ihn mit Luftschlangen und Spitzhütchen aus Karton.
»Also?«
Philippe zerdrückt in aller Ruhe den Zucker auf dem Boden seiner Tasse.
»Von heute an wird Claire jeden Mittwochnachmittag mit mir verbringen.«
»Ach ja?«
»Du wirst sie zu dieser Adresse bringen«, fährt er fort und schiebt einen kleinen Zettel über den Tisch, auf dem er die Anschrift von Bébère notiert hat. »Abends wirst du sie dort wieder abholen. Mehr habe ich dir nicht zu sagen. Du kannst jetzt gehen, wenn du willst.«
Er trinkt einen Schluck Kaffee.
»Den solltest du mal probieren, er ist gut.«
Sandrine nimmt den Zettel.
»Hast du eine Wohnung gefunden?«
»Sehe ich so aus?«
»Keine Wohnung, kein Mittwochnachmittag …«
Philippe zieht ohne jede Hast einen Stift aus seiner Tasche, dazu ein Schreiben mit dem Briefkopf der Anwaltskanzlei, das er vor Sandrine auf den Tisch legt.
»Was ist das?«
Er bedeutet ihr, den Brief zu lesen. Sandrine seufzt entnervt, aber sie fügt sich. Während sie den Text überfliegt, verzerrt sich ihr Gesicht.
»Mein Anwalt ist bereit, dieses Schreiben morgen früh an den Familienrichter zu schicken«, versetzt Philippe in neutralem Ton.
Für einen kurzen Moment sitzt Sandrine mit blutleeren
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