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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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ERSTER TEIL 1
     
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    Das erste, was Tanaquil fast jeden Morgen beim Aufwachen erblickte, war das Antlitz ihrer Mutter — jedoch nur, weil ein Porträt von Tanaquils Mutter, der Zauberin Jaive, gegenüber dem Bett hing. Das Gemälde zeigte Jaive mit einem gewaltigen Schopf scharlachroten Haars, in dem verschiedene Juwelen,
    Pflanzen, Utensilien, Mäuse und andere kleine Tiere steckten, die sie bei ihren Forschungen benutzte. »Guten Morgen, Mutter«, wandte sich Tanaquil an das Bild, und dieses antwortete energisch: »Erhebe dich mit der Sonne, begrüße den Tag! « Das sagte sie immer. Da Tanaquil gewöhnlich ohnehin erst zu fortgeschrittener Morgenstunde aufstand, war die Begrüßung völlig unpassend.
    Nachdem sie die Sache mit dem Bild hinter sich gebracht hatte, stieg Tanaquil aus dem Bett und sah sich danach um, was man ihr für das Frühstück übriggelassen hatte . Manchmal war überhaupt nichts mehr da. Heute gab es immerhin noch ein paar Stückchen kaltes, geröstetes Brot ohne Butter, eine Orange und grünen Kräutertee in einem Glas. Tanaquil kostete den Tee, um sich sodann vorsichtig die Orange zu schälen. Als sie die Schnitze auseinanderzog, flatterte ein Vogel hervor.
    »Hier entlang, hier entlang«, dirigierte Tanaquil ungeduldig den Vogel, der durch den Raum schwirrte und seinen Schnabel in die Bettvorhänge steckte. Der Vogel wirbelte aufs Fenster zu und flog in den harten, roten Sonnenschein. Tanaquil stand am Fenster und blickte hinaus über die Dächer und Zinnen von Jaives Festung auf die Wüste. Derselbe Ausblick bot sich ihr, solange sie denken konnte. Seit beinahe sechzehn Jahren war dies ihr Schlafzimmer und jenes der tägliche Ausblick gewesen. Die weite, lohfarbene Sandfläche mit ihrem mineralischen Schimmer, die nach Windböen ihre Oberflächengestalt änderte, die Zone der Felshügel in einer halben Meile Entfernung, von denen einige wie Kegel geformt waren und andere große, natürliche Bögen aufwiesen, durch die hindurch der Blick auf die Endlosigkeit der dahinterliegenden Wüste fiel. Von jedem Ort auf Jaives Burg bot sich einem, sah man hinaus, eben dieser Anblick, Dünen und Steine und der heiße Himmel. Bei Tag kochten Festung und Wüste in der Sonne. Bei Nacht wurde es kalt, dünner Schneefall setzte ein, der Sand nahm eine silberne Färbung an, und die Sterne brannten in weißem Licht.
    »He«, ließ sich eine hohe Stimme von draußen vernehmen, »he!«
    Tanaquil blinzelte hinaus und erblickte eins der Piefel, das auf dem Dach unter ihrem Fenster hockte. Es hatte in etwa die Größe einer kräftigen Katze, einen tonnenförmigen Körper mit dickem, braunem Pelz und kurze, muskulöse Beine. Mit drei Pfoten klammerte es sich fest, mit der vierten kratzte es sich emsig. Es hatte eine langgestreckte, zierliche Schnauze, einen buschigen Schwanz und spitz zulaufende, gewöhnlich aufrecht stehende Ohren, die jedoch im Augenblick schlaff herunterhingen. Seine großen gelben Augen blickten Tanaquil eindringlich an.
    »Will einen Knochen «, sagte das Piefel.
    »Es tut mir leid, aber ich habe keinen«, entgegnete Tanaquil.
    »Nein, nein, will 'nen Knochen«, insistierte das Piefel. Es hüpfte das Dach hinauf und sprang wie ein fettes Pelzschwein auf das Fensterbrett. Tanaquil streckte die Hand aus, um das Piefel zu streicheln, doch es entzog sich ihrer Berührung und ließ sich in den Raum plumpsen. Es wieselte herum, kratzte an allen möglichen Gegenständen und steckte seine lange Nase unter den Teppich, woraufhin der Stuhl umkippte. Es tapste über Tanaquils Arbeitstisch, mitten durch ihre Sammlung leicht angeschlagener Fossilien und über eine kleine Uhr, die auf dem Rücken lag. Das Piefel verstreute Zahnrädchen und Scheiben auf dem Tisch. Es sprang. Nun hockte es im Kamin.
    «Hier gibt es keine Knochen«, versetzte Tanaquil mit Nachdruck.
    Das Piefel nahm keine Notiz von ihr. »Will 'nen Knochen«, wiederholte es und warf ihr Frühstück herunter. Der Kräutertee spritzte auf den Fußboden, und schniefend und schnüffelnd leckte das Piefel ihn auf. Ein Stückchen Toast war ihm auf den Kopf gefallen. Mit einem ärgerlichen » Knochen, Knochen« schüttelte es das Bröckchen ab; Tanaquil seufzte. Sie ging in die marmorne Badenische hinüber und drückte den Löwenknopf, um einen Schwall des kühlen Wassers zum Waschen zu erhalten. Doch es kam kein Wasser. Statt dessen sickerte klebriger Beerenwein hervor.
    »O Mutter!« rief Tanaquil wütend aus. Sie rannte aus der Nische,

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