Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan
ich sehe alles mögliche und bin dennoch kein Wissender.« »Nein, du siehst nicht.« »Ich glaube wohl.« »Ich sage dir, du siehst nicht.« »Was veranlaßt dich, das zu behaupten, Don Juan?«
»Du siehst nur die Oberfläche der Dinge.« »Willst du sagen, daß jeder Wissende durch alles, was er anschaut, hindurchsieht?«
»Nein. So meine ich das nicht. Ich sagte, daß ein Wissender seine besonderen Vorlieben hat; meine besteht einfach darin, zu sehen und zu wissen; andere tun etwas anderes.« »Was zum Beispiel?«
»Nimm Sacateca, er ist ein Wissender, und seine Vorliebe ist das Tanzen. Also tanzt er und weiß.«
»Ist die Vorliebe eines Wissenden also das, was er tut, um zu wissen?« »Ja, das ist richtig.«
»Aber wie kann das Tanzen Sacateca zum Wissen verhelfen?«
»Man könnte sagen, Sacateca tanzt mit allem, was er hat.« »Tanzt er so, wie ich
tanze? Ich meine, wie man eben so tanzt?«
»Sagen wir lieber, er tanzt so, wie ich sehe, aber nicht so, wie du vielleicht tanzt.« »Aber sieht er auch so, wie du siehst?« »Ja, aber außerdem tanzt er.« »Wie tanzt Sacateca?«
»Das ist schwer zu erklären. Er hat eine besondere Art zu tanzen, wenn er wissen will. Aber ich kann darüber nicht mehr sagen, als daß es unmöglich ist, über das Tanzen oder das Sehen zu sprechen, bevor du nicht verstanden hast, in welcher Art ein Wissender weiß.« »Hast du ihn gesehen, als er tanzte?«
»Ja, aber nicht jeder, der ihm beim Tanzen zuschaut, kann sehen, daß dies seine besondere Art zu wissen ist.« Ich kannte Sacateca, oder zumindest wußte ich, wer er war. Wir waren einander einmal begegnet, und ich hatte ihn zu einem Bier eingeladen. Er war sehr höflich und sagte, ich dürfe ihn gern jederzeit zu Hause besuchen. Ich spielte lange Zeit mit dem Gedanken, ihn zu besuchen, aber ich erzählte Don Juan nichts davon.
Am 14. Mai 1962 fuhr ich zu Sacatecas Haus; er hatte mir beschrieben, wie ich fahren sollte, und so fand ich es ohne weiteres. Es stand an einer Straßenecke und war rundum von einem Zaun umgeben. Die Pforte war verschlossen. Ich ging um den Zaun und versuchte, einen Blick ins Innere des Hauses zu werfen. Es schien leer zu sein.
»Don Elias«, rief ich laut. Die Hühner schreckten auf und liefen wild gackernd
durcheinander. Ein kleiner Hund kam an den Zaun gesprungen. Ich hatte erwartet, er
würde mich anbellen. Statt dessen saß er einfach da und schaute mich an. Ich rief
noch einmal, und wieder brachen die aufgescheuchten Hühner in ihr Gegacker aus.
Eine alte Frau kam aus dem Haus. Ich bat sie, Don Elias herbeizurufen.
»Er ist nicht zu Haus«, sagte sie.
»Wo kann ich ihn finden?«
»Er ist auf den Feldern.« »Wo auf den Feldern?«
»Ich weiß nicht. Komm am Spätnachmittag wieder. Er wird gegen fünf Uhr hier sein.« »Bist du Don Elias' Frau?« »Ja, ich bin seine Frau«, sagte sie und lächelte. Ich versuchte, sie über Sacateca auszufragen, aber sie entschuldigte sich und meinte, sie spräche nicht gut spanisch. Ich stieg ins Auto und fuhr davon. Gegen sechs Uhr kehrte ich zum Haus zurück. Ich fuhr vor das Tor und rief Sacatecas Namen. Diesmal kam er selbst aus dem Haus. Ich schaltete mein Tonbandgerät ein, das in seiner braunen Lederhülle wie ein über die Schulter gehängter Fotoapparat aussah. Anscheinend erkannte er mich. »Ach, du bist's«, sagte er lächelnd. »Wie geht's Don Juan?« »Gut. Und wie geht es dir, Don Elias?« Er antwortete nicht. Er schien nervös zu sein. Nach außen hin war er sehr gelassen, aber ich spürte seine Unruhe. »Hat Juan dich mit einem Auftrag hergeschickt?« »Nein, ich bin von selbst gekommen.« »Wozu in aller Welt?« Ich hatte alles andere als eine solche Frage erwartet. »Ich wollte mich einfach gern mal mit dir unterhalten«, sagte ich und hoffte, meiner Stimme einen möglichst beiläufigen Klang zu geben. »Don Juan hat mir phantastische Dinge über dich erzählt, und so bin ich neugierig geworden und möchte dir gern ein paar Fragen stellen.«
Sacateca stand vor mir. Sein Körper war mager und drahtig. Er trug Khakihosen und ein Hemd aus dem gleichen Stoff. Seine Augen waren halb geschlossen. Offenbar war er müde oder vielleicht betrunken. Sein Mund stand etwas offen, und seine Unterlippe hing herab. Ich bemerkte, daß er tief atmete und beinah zu schnarchen schien. Bestimmt war Sacateca sinnlos betrunken, dachte ich. Und doch erschien dieser Gedanke mir wenig überzeugend, denn erst vor wenigen Augenblicken, als er aus dem Haus
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