Eine bezaubernde Erbin
gemeint hatte.
Townsends Todesanzeige stand noch in der gleichen Woche in der Zeitung. Schockiert stellte Christian Nachforschungen an und fand heraus, dass Townsend am Rande des Bankrotts gestanden hatte. Zudem schuldete er Juwelieren in London und auf dem Kontinent gewaltige Summen. Hatte er derart hohe Schulden angehäuft, um seine Frau bei Laune zu halten und so zu verhindern, dass ihr Blick zu ihren zahlreichen Bewunderern schweifte, die bereit waren, sich ihre Gunst mit großzügigen Geschenken zu erkaufen?
Ein Jahr und einen Tag nach seinem Tod heiratete Mrs Townsend erneut – eine unerhört frühe Wiederheirat in Anbetracht der üblichen Trauerzeit von zwei Jahren. Ihr zweiter Ehemann, ein Mr Easterbrook, war wohlhabend und dreißig Jahre älter als sie. Binnen kürzester Zeit kamen Gerüchte über eine zügellose Affäre in Umlauf, die sie direkt unter Mr Easterbrooks Augen mit keinem Geringeren als einem seiner besten Freunde unterhielt.
Ganz offensichtlich war Christians Angebetete eine oberflächliche, gierige und selbstsüchtige Frau, die den Menschen in ihrer Umgebung schadete und sie ausnutzte.
Er zwang sich, der Wahrheit ins Auge zu sehen.
Es war nicht übermäßig schwer, sie zu meiden. Er verkehrte nicht in denselben Kreisen wie sie, nahm nicht an der Londoner Saison teil und scherte sich auch nicht darum, bei welchen Festivitäten man unbedingt gesehen werden musste. Aus diesen Gründen war es nahezu unmöglich, dass er ausgerechnet ihr begegnete, als er aus dem Waterhouse Gebäude in der Cromwell Road trat, welches die naturgeschichtlichen Sammlungen des British Museums beherbergte.
Beinahe fünf Jahre waren vergangen, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie war mit der Zeit nur noch schöner geworden. Sie schien strahlender, anziehender und gefährlicher als je zuvor.
Er war Feuer und Flamme. Es spielte keine Rolle, was für eine Frau sie war, solange sie die Seine werden würde.
Er wandte sich ab und ging davon.
KAPITEL 1
***
Cambridge, Massachusetts
1896
Das Ichthyosaurierskelett im Harvard Museum für vergleichende Zoologie war unvollständig. Da der Fischsaurier jedoch einer der ersten war, die auf amerikanischem Boden, genauer im Staate Wyoming, gefunden worden war, wollte ihn die amerikanische Universität verständlicherweise unbedingt ausstellen.
Venetia Fitzhugh Townsend Easterbrook trat näher, um seine winzigen Zähne zu betrachten, die an die Klinge eines gezackten Brotmessers erinnerten und darauf hindeuteten, dass er sich von weichen Meerestieren ernährt hatte. Tintenfische, vielleicht, die es in den Meeren des Trias im Überfluss gegeben hatte. Sie begutachtete die winzigen Knochen der Flossen, die wie Maiskörner an ihrem Kolben aneinander passten. Sie zählte seine vielen Rippenknochen, gebogen, lang und dünn wie die Zacken eines Kammes.
Nachdem dem Anschein wissenschaftlicher Genauigkeit genüge getan war, erlaubte sie sich, zurückzutreten und die Länge der Kreatur auf sich wirken zu lassen. Dreieinhalb Meter vom einen zum anderen Ende, obwohl der Großteil des Schwanzes fehlte. Ehrlich gesagt, beeindruckte sie die Größe der prähistorischen Tiere immer am meisten.
„Ich sagte doch, dass sie hier ist“, vernahm sie eine bekannte Stimme – die ihrer jüngeren Schwester Helena.
„Und wie recht du hast“, sagte Millie, die Frau ihres Bruders Fitz.
Venetia drehte sich um. Helena war ohne Schuhe einen Meter achtzig groß. Als ob sie damit nicht schon genug Aufmerksamkeit erregen würde, besaß sie zudem rotes Haar, und zwar das schönste und prächtigste seit Königin Elisabeth I., ergänzt durch malachitgrüne Augen. Millie konnte mit ihrem einen Meter sechzig, den braunen Augen und braunen Haaren in einer Menschenmenge leicht übersehen werden – obgleich dies ein Fehler gewesen wäre, denn Millie war eine zarte Schönheit und viel tiefgründiger, als sie auf den ersten Blick erkennen ließ.
Venetia lächelte. „Hat euch die Befragung der Eltern weitergebracht, meine Lieben?“
„Ein wenig“, antwortete Helena.
Die zukünftigen Absolventinnen von Radcliffe, einem College für Frauen, das zu Harvard gehörte, würden die ersten sein, deren Abschlusszeugnisse die Unterschrift des Präsidenten trugen – ein Privileg, das ihren englischen Kommilitoninnen am Lady Margaret Hall und am Girton rundheraus verwehrt blieb. Helena war hier, um für das Queen Magazin über die jungen Damen und diesen denkwürdigen historischen Moment zu schreiben.
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