Eine bezaubernde Erbin
Gelegenheit nutzen, ein paar Sehenswürdigkeiten zu besichtigen.“
„Bei diesem Wetter?“, fragte Helena skeptisch.
Der Frühling in Neuengland war grau und kühl. Der Wind blies wie mit feinen Nadelstichen gegen Venetias Wangen. Die Backsteinbauten überall um sie herum sahen so mürrisch und streng aus wie die Puritaner, die seinerzeit die Universität gegründet hatten. „Du lässt dich doch sicherlich nicht von dem bisschen Kälte abhalten. Wir werden so bald nicht wieder nach Amerika kommen. Bevor wir abreisen, sollten wir so viel von dem Kontinent sehen, wie wir können.“
„Aber mein Geschäft – das kann ich unmöglich länger vernachlässigen.“
„Das tust du doch auch nicht. Du hast dich über alles auf dem Laufenden gehalten.“
Venetia hatte gesehen, wie viele Briefe Helena von ihrem Verlag erhalten hatte. „Wir werden dich ohnedies nicht noch viel länger aufhalten. Du weißt, wir müssen zur Saison zurück in London sein.“
Ein besonders heftiger Windstoß riss ihr fast den Hut vom Kopf. Ein Mann, der auf dem Bürgersteig stand und gerade Plakate ankleisterte, hatte Schwierigkeiten, seinen Stapel Papiere festzuhalten. Eines der Blätter entkam seinem Griff und wehte zu Venetia. Sie schnappte sich den Zettel, bevor er auf ihrem Gesicht festkleben konnte.
„Aber …“, begann Helena erneut.
„Ach komm, Helena“, sagte Venetia in strengem Tonfall. „Sollen wir etwa denken, dass du dich nicht über unsere Gesellschaft freust?“
Helena zögerte. Nichts war offen angesprochen worden, und vielleicht würde auch nichts je zur Sprache gebracht werden, aber sie konnte sich die Gründe für ihren überstürzten Aufbruch aus England denken. Zudem fühlte sie sich zumindest ein wenig schuldig dafür, das Vertrauen, das ihre Familie in sie gesetzt hatte, so umfassend missbraucht zu haben.
„Oh, na gut“, lenkte sie unwillig ein.
Millie, die auf Venetias anderer Seite ging, formte lautlos mit den Lippen ein Gut gemacht .
„Und was steht auf dem Plakat?“
Venetia hatte das aufgefangene Stück Papier völlig vergessen. Sie versuchte, es zu voller Größe aufzufalten, doch der Wind ließ es vor und zurück flattern – und entriss es ihr schließlich ganz. Ihr blieb nur eine Ecke, auf der American Society of Nat stand.
„Ist das der Gleiche?“ Millie zeigte auf den Laternenpfahl, an dem sie gerade vorbeigegangen waren.
Auf dem Aushang, der auf dort klebte, stand:
Die American Society of Naturalists und die Boston Society of Natural History
präsentieren gemeinsam
Lamarck und Darwin: Wer hat recht?
Seine Gnaden, der Duke of Lexington
Donnerstag, 26. März, 15:00 Uhr
Sanders Theatre, Harvard University
Der Öffentlichkeit zugänglich
„Du meine Güte, es ist Lexington.“ Venetia griff nach Millies Arm. „Er wird hier nächsten Donnerstag einen Vortrag halten.“
Der gesamte englische Adel hatte darunter zu leiden, dass er durch stark gesunkene Einnahmen aus der Landwirtschaft einen Teil seines Wohlstands einbüßte. Egal wohin man blickte, allerorten kapitulierte ein Lord nach dem anderen vor undichten Dächern und verstopften Rauchfängen. Venetias Bruder Fitz beispielsweise hatte mit neunzehn Jahren des Geldes wegen heiraten müssen, nachdem er unerwartet nicht nur einen Grafentitel, sondern auch die dazugehörigen praktisch bankrotten Ländereien geerbt hatte.
Der Duke of Lexington kannte solche Unannehmlichkeiten jedoch nicht. Er profitierte aufs Erfreulichste davon, beinahe die Hälfte der besten Liegenschaften in London zu besitzen. Sie waren der Familie von der Krone überlassen worden, als ein Großteil noch einfaches Weideland war.
Er nahm kaum am Leben der guten Gesellschaft teil – man scherzte häufig darüber, dass eine junge Dame, wenn sie sich Hoffnung auf seine Hand machen wollte, eine Landkarte in der einen und eine Schaufel in der anderen Hand haben müsse. Er konnte es sich leisten, sich rar zu machen: Er hatte es nicht nötig, am Gerangel um die gerade verfügbaren Erbinnen teilzunehmen und darauf zu hoffen, dass sein Titel ihm dazu verhalf, ein riesiges Vermögen an Land zu ziehen. Stattdessen reiste er an entlegene Orte, grub nach Fossilien und veröffentlichte Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften.
Dies war äußerst bedauerlich. Denn jedes Mal, wenn Venetia und Millie die Köpfe zusammensteckten und Helena wegen einer weiteren erfolglosen Saison bemitleideten, kam das Gespräch unweigerlich auf Lexington.
Sie sagte, Belfort sei nicht ernst
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