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Eine blaßblaue Frauenhandschrift

Eine blaßblaue Frauenhandschrift

Titel: Eine blaßblaue Frauenhandschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Fakultät an Wissen und diagnostischer Trefsicherheit übertraf. Ich war in dieses Haus empfohlen worden, um den siebzehnjährigen Jacques, Veras Bruder, zum Examen vorzubereiten. Jacques hatte durch eine langwierige Krankheit mehrere Monate des Schuljahres versäumt, und nun mußten die Lücken in aller Eile ausgefüllt werden. Er war ein blasser schläfriger Junge, verschlossen gegen mich bis zur Feindseligkeit, und hat mich durch seine Zerstreutheit und seinen inneren Widerstand (heute weiß ich den Grund) oft bis aufs Blut gepeinigt. Er ist dann in den ersten Kriegswochen als Freiwilliger gefallen. Bei Rawaruska. Wie froh aber war ich in jener härtesten Periode meines Lebens, eine fxe Hauslehrerstelle für längere Zeit gefunden zu haben. Vor mir lag keine Zukunft. Daß mir schon ein Semester später der Sprung aus meiner dumpfen Unterwelt in eine lichte Oberwelt gelingen werde, das hätte auch eine robustere Natur nicht für erträumbar gehalten. Ich glaubte schon, das große Los gezogen zu haben, weil man mich im Hause Wormser, ohne daß es ausbedungen war, täglich beim Mittagessen dabehielt. Der Doktor kam gewöhnlich gegen ein Uhr heim. Jacques und ich saßen da noch immer über den Lehrbüchern. Er rief uns beide zu Tisch, wobei er meines unseligen Vornamens wegen oft die berühmte Grabschrift des antiken Leonidas und seiner Helden parodierte:
    »Wanderer, kommst du nach Sparta,
verkündige dorten, du habest
hier uns schmausen gesehn, wie
das Gesetz es befahl.«

    Ein mäßiger Witz, der mich aber immer wieder sonderbar beschämte und kränkte. Das Mittagmahl bei Wormser wurde für mich ein Gewohnheitsrecht. Vera kam fast immer zu spät. Auch sie war Gymnasiastin wie ihr Bruder. Ihre Schule aber lag in einem entfernten Bezirk. Sie hatten einen langen Heimweg. Das Haar trug sie damals noch lang. Es fel ihr auf die schwächlichen Schultern. Ihr Ge sichtchen, wie aus Mondstein geschnitten, wurde beherrscht von den großen, langbeschatteten Augen, deren irritierendes Blau sich unter die schwarzen Brauen und Wimpern aus einer kühlen Fremde verirrt zu haben schien. Nur selten traf mich ihr Blick, der hochmütigste, ablehnendste Mädchenblick, den ich je zu erdulden hatte. Ich war der Hauslehrer ihres Bruders, ein kleiner Student, käsig, mit Pickeln im Gesicht und stets entzündeten Augen, die bedeutungslose Nichtigkeit und Unsicherheit in Person. Ich übertreibe nicht. Bis zu jenem unglaubwürdigen Wendepunkt meines Lebens war ich ohne Zweifel ein unschöner linkischer Bursche, der sich von jedermann verachtet und von jeder Frau verlacht fühlte. Ich hatte gewissermaßen das äußerste ›Tief‹ meines Daseins erreicht. Niemand hätte einen Groschen für die Lauahn dieses schäbigen Studenten gegeben. Auch ich nicht. Mein ganzes Selbstvertrauen war erschöpft. Wie sollte ich gerade in diesen unseligen Monaten ahnen, daß ich mich selbst bald werde grenzenlos in Erstaunen setzen? (Alles kam dann wie ohne mein Zutun.) Ich war mit dreiundzwanzig Jahren in meinem Elend eine noch nicht voll entwickelte Lemure. Vera aber, ein Kind, schien weit über ihre Jahre hinaus reif und gefestigt zu sein. Immer, wenn mich bei Tisch ihre Augen streiften, erstarrte ich unter dem arktischen Kältegrad ihrer Gleichgültigkeit. Dann hatte ich den Wunsch, mich in Nichts aufzulösen, damit Vera den unappetitlichsten und unsympathischsten Menschen der Welt nicht länger vor den schönen Augen haben müsse.
    Neben Geburt und Tod erlebt der Mensch eine dritte katastrophale Stufe auf seinem Erdenweg. Ich möchte sie die ›soziale Entbindung‹ nennen, ohne mit dieser etwas zu geistreichen Formel ganz einverstanden zu sein. Ich meine den krampfgeschüttelten Übergang von der völligen Geltungslosigkeit des jungen Menschen zu seiner ersten Selbstbestätigung im Rahmen der bestehenden Gesellschaft. Wieviel gehen an dieser Entbindung zugrunde oder nehmen zumindest einen Schaden fürs Leben. Es ist schon eine runde Leistung, fünfzig Jahre alt zu werden, und noch dazu in Ehren und Würden. Mit dreiundzwanzig, ein verspäteter Fall, wünschte ich mir alltäglich den Tod, zumal wenn ich am Familientisch Doktor Wormsers saß. Mit wildem Herzklopfen erwartete ich jedesmal Veras schwebenden Eintritt. Erschien sie in der Tür, so war’s für mich eine fürchterliche Wonne, die mir die Kehle zudrückte. Sie küßte den Vater auf die Stirn, gab dem Bruder einen Klaps und reichte mir geistesabwesend die Hand. Dann und wann richtete sie sogar

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