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Eine dunkle & grimmige Geschichte

Eine dunkle & grimmige Geschichte

Titel: Eine dunkle & grimmige Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Gidwitz
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überall im Wald Tierkadaver. Einige waren zur Hälfte aufgegessen, andere kaum berührt worden. Einmal entdeckte sie einen wilden Eber, der größer war als Hänsel, mit gebrochenem Genick. Sie fragte sich, wie Hänsel so kräftig und so grausam hatte werden können.
    Nach einer Weile erahnte sie ihren Bruder nur noch als vorbeihuschenden Schatten. Ein Schimmer seiner Haut hinter Bäumen, der Schrei eines sterbenden Tieres und dann Hänsels Freudengebrüll. Sie bemerkte, dass er sich langsam veränderte. Es wuchsen ihm Haare im Gesicht und auf dem Rücken.
    Gretel fürchtete sich allein im Wald, besonders in der Nacht. Sie hörte Geheul. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es früher schon da gewesen war. Sie fragte sich, ob es Hänsel war, der da draußen so heulte.
    Vor lauter Angst, ihn zu treffen, entfernte sie sich kaum noch von ihrer Hütte. Eines Tages kam er auf die Lichtung. Gretel starrte ihn erschrocken an. Er lief vornübergebeugt. Sein Körper war über und über mit Fell bedeckt: seine Arme, sein Rücken, sein Gesicht, seine Brust. Zitternd bot sie ihm eine Handvoll Beeren und Nüsse an. Er knurrte. Sie ließ die Beeren fallen und versteckte sich in der Hütte. Er knurrte lauter und lief noch eine Weile auf der Lichtung herum. Gretel fragte sich, ob er sie nun töten würde. Aber er lief weiter.
    Im Wald gab es immer weniger Tiere. Gretel hörte keine Vögel mehr singen. Sie sah keine kleinen Nager mehr im Unterholz und keine Rehe hinter den Farnen.
    Und dann, eines Tages früh am Morgen, kam eine Jagdgesellschaft – ein Herzog und sein Gefolge – in den Wald. Sie bliesen in ihre Jagdhörner und ihre Hunde jaulten und bellten. Gretel hatte Angst. Aber noch mehr Angst als um sich selbst hatte sie um Hänsel. Sie ging in die Hütte und blieb dort den ganzen Tag und hoffte, dass er zu ihr kommen würde.
    Die Hunde und Jäger durchkämmten den Wald nach Tieren. Zu ihrer großen Überraschung konnten sie keine finden. Den ganzen Tag suchten sie vergeblich. Der Herzog wurde wütend und ungeduldig. Und dann, am Abend, sah er eine seltsame, haarige Kreatur hinter einem Baum hervorlugen.
    »Dort drüben!«, rief er, und sofort waren die Hunde auf seiner Fährte.
    Hänsel flüchtete durch den Wald, erregt von der Jagd. Die Hunde waren ihm auf den Fersen, Jagdhörner erfüllten die Luft.
    Er bahnte sich seinen Weg, keuchend, knurrend, lachend und johlend. Was für ein Spaß!, dachte er. Was für ein großartiger, schrecklicher Spaß!
    Zuletzt kam er an den Rand eines Baches. Am Weg saß der Herzog auf seinem Pferd, spannte seinen Bogen und zielte auf ihn. Hänsel starrte gebannt auf den verschwitzten, rotgesichtigen Mann mit dem seltsamen Stock. Er hörte ein Klacken und ein Zischen. Es erinnerte ihn andas Geräusch einer Schlange. Ein Pfeil flog durch die Luft – ein unbeirrbarer, einfacher Todesbote. Hänsel verfolgte ihn mit dem Blick bis zu seiner Brust, in der Höhe seines Herzens. Dort grub sich der Pfeil in sein Fleisch. Hänsel fühlte einen stechenden Schmerz und fiel auf den Waldboden.
    Die Jäger banden das seltsame tote Tier an einen Pflock und brachten es in einem Triumphzug zum Schloss.
    Am nächsten Morgen durchsuchte Gretel den Wald nach ihrem Bruder. Lange fand sie nichts als zerbrochene Äste und die Abdrücke von Pfoten. Endlich kam sie zu dem Fluss und entdeckte die rot befleckte Erde. Die Felsen am Wasserrand waren voller Blut.
    Sie rannte zu dem sprechenden Baum. »Mein Bruder wurde getötet!«, schrie sie.
    Aber der Baum redete nicht mit ihr. Gretel fiel auf den Boden und schluchzte und schluchzte. Sie war ganz allein in einem großen Wald, gefangen in einer düsteren Geschichte. Ihr Vater hatte versucht, sie zu töten. Sie war fast von der Bäckersfrau gegessen worden und hatte sich ihren eigenen Finger abgeschnitten. Und jetzt war ihr Bruder tot.
    Sie würde ganz sicher nicht in diesem Wald bleiben. »Ich muss dorthin zurück, wo Menschen sind«, sagte sie, als sie sich die Tränen vom Gesicht wischte. »Dorthin, wo Erwachsene sind.« Als sie den Lebenswald verließ, hörte sie wieder Vögel zwitschern. Doch das verstärkte ihren Schmerz lediglich. Die Tiere kamen nur zurück, weil Hänsel tot war.
    Wir sind jetzt an einem Punkt angekommen – und ihn gibt es in fast allen Geschichten –, wo es um die Dinge wirklich, wirklich schlecht steht. Wo es sich so anfühlt, als könnte man nicht mehr weiterlesen, wenn es noch schlimmer kommt.
    Als ich klein war, nannte ich das den »traurigen

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