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Eine dunkle & grimmige Geschichte

Eine dunkle & grimmige Geschichte

Titel: Eine dunkle & grimmige Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Gidwitz
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hinterlassen und das Blut rann ihr Gesicht herunter. Sie konnte kaum aus ihrem linken Auge sehen.
    Der junge Mann kniete vor ihr nieder. Er betrachtete den Schnitt. Sehr sanft und sehr langsam berührte er ihn mit den Lippen und saugte das Blut weg. Gretel wusste nicht, was sie davon halten sollte. Dann nahm er den alten Bindfaden, mit dem er immer das Spielzeug heilte, aus seiner Tasche. Er wickelte ihn um ihren Kopf, sodass er den Schnitt bedeckte. Er lächelte Gretel an. Und als er den Faden wieder wegnahm, wischte er das Blut von Gretels Gesicht. Sie bemerkte, dass das Bluten aufgehört hatte und die Wunde nicht mehr schmerzte.
    Nun, meine lieben Leser, glaube ich ein wachsendes Misstrauen gegenüber dem schönen jungen Mann bei euch zu bemerken. Ich muss sagen, dass das sehr ungerecht von euch ist.
    Verdächtigt ihr eine Blume, nur weil sie schön ist?
    Oder einen Doktor, nur weil er gut heilen kann?
    Oder den Postboten, weil ihr nicht wisst, wo er nachts schläft?
    Sehr unfair von euch.
    Wenn ich darüber nachdenke, solltet ihr den Babysitter wieder kommen lassen, den ihr schon für die letzte Geschichte geholt hattet. Lasst ihn mit den ganz Kleinen ins Kino gehen. Ein Film ab 0 oder ab 6 Jahren. Oder meinetwegen auch ab 12 oder 16. Das ist immer noch besser als das, was ihr gleich lesen werdet.
    Ich weiß, ihr glaubt mir nicht. »Wie viel schlimmer kann es noch werden?«, fragt ihr euch.
    Glaubt mir. Es kann noch viel schlimmer werden.
    Als Gretel und der schöne junge Mann vom Obstgarten zurück ins Dorf liefen, redeten sie über dies und das – das Wetter, die Apfelernte, das bald stattfindende Erntedankfest –, als er sich plötzlich zu ihr wandte und wissen wollte, ob sie sich nicht frage, wo er wohnte. Gretel antwortete scheu, dass sie sich darüber tatsächlich manchmal wundere. Er fragte, ob sie vielleicht sein Haus sehen wolle. Ihr Herz klopfte wild, und sie sagte, dass sie es sehr gerne sehen wolle, und dankte ihm für die Einladung. Und dann fragte sie den schönen, jungen Mann, wo sein Haus sei.
    »Ein kleines Stück in den Wald hinein«, sagte er.
    »In den Wald?«
    Er lachte. »Du hast doch keine Angst vor diesem dummen, alten Wald, oder?«
    »Nein«, log sie.
    »Ich werde eine Spur aus Asche hinterlassen, damit du mir folgen kannst.«
    Gretels Herz machte einen Sprung. »Das ist gut«, sagte sie.
    Aber abends, als sie nach Hause kam und der Witwe erzählte, dass sie morgen in den Schwarzen Wald gehen wollte, um den schönen jungen Mann zu besuchen, wurde diese ganz ungehalten und verbot es ihr. Ein Mädchen sollte nicht allein das Haus eines erwachsenen Mannes besuchen, und dann auch noch im Schwarzen Wald? Wusste Gretel denn gar nichts über den Ort? War sie so dumm?
    Gretel war wütend. Sie weinte und schrie die ganze Nacht. Am nächsten Tag war ihr Gesicht rot und geschwollen, und sie erzählte dem schönen jungen Mann, dass sie ihn nicht besuchen könne, weil die Witwe es nicht erlaubte. Er lächelte und sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, sie wären immer noch Freunde. Aber an diesem Tag redete er weniger mit ihr. Sie beobachtete ihn von Weitem. Nur selten erwiderte er ihren Blick.
    Er vergisst mich , dachte sie.
    Am Ende des Tages ging der schöne junge Mann zur Dorfschenke, ohne Gretel auch nur eines Blickes zu würdigen, so als existiere sie gar nicht.
    Bevor er ganz in der Tür der Schenke verschwunden war, rannte Gretel zu ihm und packte ihn am Arm. »Ich werde kommen«, flüsterte sie eindringlich. »Ich komme morgen.«
    Der junge Mann zögerte erst, dann lächelte er und ging hinein.
    Gretel lief nach Hause. Sie war fest entschlossen. Sie erzählte der Witwe, dass sie am folgenden Tag in den Schwarzen Wald gehen würde und dass nichts, gar nichts sie davon abhalten könne. In dieser Nacht stritten sie wieder, aber Gretel war unerbittlich. Am kommenden Morgen machte sie sich zum Gehen fertig. Aber die Witwe stand mit verschränkten Armen in der Tür. Gretel zwängte sich unter ihrem Arm hindurch und rannte los.
    »Gretel!«, rief die Witwe. »Gretel!«
    Aber Gretel ignorierte sie und rannte durch den Garten auf die schmutzige Straße. »Nimm die hier mit!«, hörte sie die Witwe hinter sich rufen.
    Gretel wurde langsamer und sah zurück. Die Witwe hielt ein Säckchen mit Linsen in ihrer Hand. Misstrauisch, weil sie einen Trick fürchtete, ging Gretel zurück.
    »Verteile sie auf dem Ascheweg«, sagte die Witwe traurig. »Nur falls es regnet.«
    Gretel lief zum Rand des

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