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Eine dunkle & grimmige Geschichte

Eine dunkle & grimmige Geschichte

Titel: Eine dunkle & grimmige Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Gidwitz
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Stück Faden um die kaputte Stelle. Wenn er den Faden wieder wegnahm, war das Spielzeug so gut wie neu. Die Kinder jubelten dann vor Freude und klatschen in dieHände und der junge Mann lächelte. Dann ging er zurück zur Schenke zu den Erwachsenen.
    Jeden Tag wandelte sich die Farbe des Himmels von Hellblau zu Dunkelrot und schließlich zu Schwarz. Gretel beobachtete den jungen Mann, wie er sich verabschiedete, die Dorfschenke verließ und in der Dunkelheit verschwand. Ganz allein. Gretel fragte sich immer, wohin er ging.
    Eines Nachmittags, als das letzte Getreide von den Feldern geholt worden war, saß Gretel an der Tür der Schenke und schaute zu, wie die Männer ihr Lieblingsspiel spielten. Und das ging so: Einer der Männer balancierte einen Becher auf seinem Kinn, und alle anderen versuchten, Münzen hineinzuwerfen. Wenn der Becher nicht hinunterfiel, dann durfte der Mann alle Münzen behalten. Fiel der Becher herunter, dann musste er allen ein Getränk kaufen.
    Der schöne junge Mann war gerade an der Reihe, den Becher auf seinem Kinn zu balancieren, und Gretel beobachtete ihn, wie er sich wie eine Schlange wand, um den Becher auf seinem Kinn zu halten. Genau in diesem Moment trat einer der Freunde des jungen Mannes zu Gretel.
    »Ruf ihn beim Namen«, flüsterte der Freund. »Mal sehen, ob er den Becher dann noch halten kann.«
    Gretel fand die Idee lustig. Also rief sie laut den Namen des jungen Mannes.
    Er war überrascht, denn noch nie zuvor hatte Gretel mit ihm geredet. Er drehte sich zu ihr, und als er das tat, fiel der Becher klimpernd zu Boden. Die Männer applaudierten. Und der Mann, der Gretel dazu angestiftet hatte, warf seinen Kopf zurück und lachte, bis er rot war, vom Kragen bis zum Scheitel.
    Aber die grünen Augen des jungen Mannes waren weit aufgerissen, und plötzlich stürmte er auf Gretel zu. Seine Hände waren ausgesteckt wie Klauen. Gretel schrie, als er sie hart um die Taille packte.
    Und dann, einen kurzen Moment später, wirbelte er sie durch die Luft. Ihr langes blondes Haar wehte wie eine Fahne im Wind und seine starken Arme hielten sie fest umschlungen. Und er lachte – ein wunderschönes, fröhliches Lachen. Er warf seinen Kopf zurück und seine Augen funkelten.
    Gretel war von dem jungen Mann von Anfang an fasziniert gewesen. Aber von dem Moment an, in dem er sie hoch in die Luft hob und seine goldgrünen Augen leuchteten und seine roten Lippen sich kräuselten und er lachte – mit ihr und nur mit ihr –, war Gretel nicht mehr von ihm fasziniert. Von dem Moment an war sie in ihn verliebt.
    Es war keine echte Liebe, denkt ihr jetzt vielleicht. Nur die Vernarrtheit eines Kindes.
    Ihr könnt das ruhig denken. Aber das beweist nur, dass ihr schon älter seid und euch nicht mehr daran erinnern könnt, wie es sich anfühlt, ein Kind zu sein.
    Von diesem Tag an versuchte Gretel so oft wie möglich in der Nähe des schönen jungen Mannes mit den grünenAugen, den schwarzen Haaren und den roten Lippen zu sein. Er redete mit ihr und brachte sie zum Lachen und stahl Äpfel von den Erntekörben für sie. Und sie fragte sich, womit sie es verdient hatte, so viel Aufmerksamkeit von ihm zu bekommen.
    Eines Tages, kurz vor dem großen Erntedankessen, als die Arbeit auf den Obstplantagen fast vorbei war und die Leitern schon zusammengelegt und nach drinnen gebracht wurden, bemerkte Gretel einen großen, wunderschönen Apfel an einem Zweig über ihrem Kopf. Sie versuchte hochzuspringen, ihn zu fassen und in einen der Körbe zu legen, bevor ein Vogel ihn sah und Löcher in ihn pickte. Aber er hing zu hoch. Sie konnte ihn nicht erreichen. So rief sie nach dem schönen jungen Mann und bat ihn, zu kommen und ihn zu pflücken.
    Er kam, lächelte sie an, aber auch für ihn hing der Apfel zu hoch. Also packte er Gretel an der Hüfte und hob sie in die Luft. Ihr stockte der Atem – so wie immer, wenn er sie berührte –, aber nun konnte sie den Apfel erreichen. Und sie pflückte ihn.
    Dann warf er sie in die Luft, anstatt sie wieder nach unten zu lassen. Gretel schrie, aber nicht aus Angst. Und er fing sie und warf sie wieder hoch und sie lachte. Und er warf sie ein drittes Mal. Aber dieses Mal warf er sie zu nah an einen überhängenden Ast. Sie riss den Arm nach oben, um sich vor dem Aufprall zu schützen, aber es war zu spät. Sie schrie auf vor Schmerz.
    Als er sie am Boden aufsetzte, lief Blut in einem kleinen Rinnsal von Gretels Stirn. Der Ast hatte einen tiefenSchnitt über ihrer Augenbraue

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