Eine Ehe in Briefen
die Familie ausgelassen«, hielt sie ihm entgegen. »Gäbe es diese Verpflichtungen nicht, die ich mir keineswegs ausdenke, sondern die mein ganzes Wesen bestimmen, so widmete ich mein Leben derWohltätigkeit, um, wie Du sagst, nicht am Elend der niederen Klassen vorüberzugehen, sondern bemühte mich zu helfen, wo ich nur kann. Doch ich kann es nicht zulassen, daß aus unseren Kindern, die mir von Gott geschenkt wurden, ungehobelte und ungebildete Menschen erwachsen, während ich mich dem Wohle mir fremder Menschen widme.«
Tolstaja stand den neuen Ansichten ihres Mannes kritisch gegenüber und sprach ihre Meinung offen aus. Im Gegensatz zu den visionären Antworten Tolstojs auf die Frage, wie das Übel in der Welt zu bekämpfen sei, war sie stets Realistin und überzeugt, es sei dienlicher, die Menschheit nicht mit Predigten verbessern zu wollen, sondern mit konkreter Hilfe zu unterstützen. »Wenn man einem zu essen gibt, so ist dies gut, wenn man zweien zu essen gibt, so ist es noch besser«, heißt es in einem ihrer Briefe. »So gib auch Du den Hungrigen zu essen, und ich werde, wie Iwan der Narr die Blätter zu Gold verwandelt, so viel Geld mit Deinen Werken verdienen, wie nur immer notwendig dafür.«
Im Juni 1884 eskalierten die Auseinandersetzungen um die richtige Lebensweise derart, daß Tolstoj einige Habseligkeiten in ein Bündel warf und die Familie verlassen wollte. Bereits in Tula aber kehrte er um. In derselben Nacht kam seine Frau mit dem zwölften Kind, der Tochter Alexandra, nieder.
Tolstoj war nicht imstande, seine Frau zu verlassen, zu groß war die Liebe, die beide miteinander verband. Doch diese beiden einander liebenden Menschen fanden sich nun auf unterschiedlichen Seiten. Auseinandersetzungen, Streit und gegenseitige Anschuldigungen standen von nun an auf der Tagesordnung. Auch in ihren Briefen kämpften sie für ihre Überzeugungen, die nicht mehr miteinander zu vereinbaren waren. Sie kämpften um ihre Liebe und rangen sich Kompromisse ab, die ein weiteres Zusammenleben ermöglichten.
1883 erteilte Tolstoj seiner Frau Vollmacht für alle Vermögensangelegenheiten. Nun war Tolstaja auch offiziell für das finanzielleWohlergehen der Familie verantwortlich. Sie führte die Geschäfte nach ihrem Gutdünken, legte ihrem Mann aber stets Rechenschaft ab. Seit 1885 gab die Schriftstellergattin die Werke ihres Mannes als Verlegerin heraus und war fast ohne Unterlaß mit Korrekturen, Verhandlungen mit Zensurbehören und Buchhändlern, Papiergroßhändlern und Druckereibesitzern beschäftigt. In den fünfundzwanzig Jahren bis zu Tolstojs Tod im Jahr 1910 gab sie dreizehn Auflagen seiner Gesammelten Werke in Druck.
Acht Jahre später befreite Tolstoj sich ganz von jeglichem Besitz. Der Grundbesitz wurde unter den Nachkommen aufgeteilt, und er gab eine öffentliche Erklärung ab, derzufolge seine nach 1881 verfaßten Werke nicht mehr dem Urheberrecht unterlägen. Der auf Tolstojs Anregung gegründete Verlag Posrednik [ Der Vermittler ], der von überzeugten Tolstoj-Jüngern geführt wurde und erbauliche Literatur in hohen Auflagen zu niedrigen Preisen publizierte, erhielt das Recht der Erstveröffentlichung aller Werke Tolstojs. Gleichwohl blieb die Verlagstätigkeit Tolstajas weiterhin die Haupteinnahmequelle der Familie.
Ebenso wie Tolstoj, der sich häufig nach Jasnaja Poljana zurückzog, um dort ungestört arbeiten zu können, floh seine Frau vor dem zunehmend belastenden Zusammenleben in ihre Arbeit als Verlegerin. »Hinsichtlich meiner verlegerischen Tätigkeit sage ich folgendes«, schrieb sie ihrem Mann: »Ich flüchte mich in diese peinvolle Aufgabe, um zu vergessen; dies ist meine Schenke, in der ich die schwierige Lage der Familie hinter mir lasse. [...] Ich muß mich irgendwohin flüchten vor diesen Szenen, Vorwürfen, vor diesem Leiden im Namen eines neuen, guten Glücks, welches das alte Glück zerstört.«
Zugleich war ihre verlegerische Arbeit aber auch Tolstajas erster Schritt zur Emanzipation vom übermächtigen Einfluß ihres Ehemanns. Nachdem die literarische Arbeit für Tolstoj nach der Fertigstellung von Anna Karenina in den Hintergrundgetreten war und er vor allem philosophische und sozialkritische Arbeiten verfaßt hatte, veränderte sich auch das Selbstverständnis seiner Frau. Nach fast drei Jahrzehnten der Ehe, in denen sie die Rolle des »Dienstmädchens des Schriftstellers und Gatten« bereitwillig übernommen hatte, begann sie nun, nach Verwirklichung ihres eigenen
Weitere Kostenlose Bücher