Eine Ehe in Briefen
Ichs zu streben. Im Alter von fast fünfzig Jahren begann Sofja Tolstaja wieder zu schreiben: Eine Frage der Schuld lautet der Titel ihres Kurzromans, den sie in den Jahren 1892/93 als Antwort auf Die Kreutzersonate ihres Mannes verfaßte und in dem sie der »erbarmungslosen Haltung Lew Nikolajewitschs der Frau gegenüber« eine weibliche Sicht entgegenstellte. »Mich braucht er nur als Gegenstand«, klagt ihre Protagonistin Anna in diesem Roman ihren Ehemann an, und damit beschrieb Tolstaja auch den Grund für die Tragödie ihrer Ehe. Erst fünfundsiebzig Jahre nach ihrem Tod sollte ihre literarische Replik auf Die Kreutzersonate erscheinen.
Trotz aller Spannungen gab es jedoch auch immer wieder Zeiten der Annäherung der Eheleute. Als das Russische Reich zu Beginn der 1890er Jahr von einer Hungersnot heimgesucht wurde, stellten Tolstoj und die ältesten Tolstoj-Kinder sich ganz in den Dienst der Hilfe für die Notleidenden. Tolstaja blieb mit den jüngeren Kindern in Moskau und verfaßte einen Aufruf, der die Bevölkerung aufwühlte. Von allen Seiten wurde die humanitäre Hilfe der Tolstojs national und international durch Spenden unterstützt.
Durch die gemeinsame Arbeit für die Anliegen der von der Hungersnot Bedrohten traten die Auseinandersetzungen im Hause Tolstoj in den Hintergrund. Als aber der Alltag wieder einkehrte, brachen die alten Konflikte erneut auf. Mehr als zuvor litt Tolstoj an seinem Leben: »Dieser Luxus. Dieser Handel mit den Büchern. Dieser moralische Schmutz«, notierte er im Tagebuch. Doch er wurde sich darüber klar, daß er seineFrau und seine Familie nicht verlassen konnte. Das Zusammenleben mit ihnen, das seinen eigenen Überzeugungen entgegengesetzt war, sah er nun als ihm von Gott auferlegte Prüfung. Ein »Kreuz«, das ihm zu seiner Selbstvervollkommnung unabdingbar ist, um demütiger zu werden, zu verzeihen und zu lieben.
Im Februar 1895 starb unerwartet der jüngste Sohn der Tolstojs, Wanetschka, kurz vor seinem siebten Geburtstag. Beide Ehepartner trauerten außerordentlich um den Liebling der Familie. »Alles, alles ist von mir gegangen. [...] Plötzlich ist das Leben zu Ende«, beschrieb Tolstaja ihre Seelennot. Sie fand Trost in der Musik. Die »Tür zum Verständnis der Musik« öffnete ihr der Komponist und Pianist Sergej Iwanowitsch Tanejew, der über viele Jahre lang häufiger Gast bei den Tolstojs in Jasnaja Poljana und Moskau war.
Aus Tolstajas Leidenschaft zur Musik erwuchs eine schwärmerische Begeisterung für den Musiker. Drunter und drüber ging es nun bei den Tolstojs. Von Eifersucht geplagt machte der Schriftsteller seiner Frau heftige Vorwürfe. Seine Briefe an sie aus dieser Zeit bezeugen seine tiefe Verbundenheit mit ihr nach über dreißig Jahren Ehe. »Du hast bei Deinem Aufenthalt hier einen so kraftvollen, munteren und schönen Eindruck hinterlassen, sogar allzu schön für mich, denn nun fehlst Du mir noch mehr als sonst«, machte Tolstoj seiner Sonja im Mai 1897 eine Liebeserklärung, »Mein Wiedererwachen zum Leben und Dein Aufenthalt hier – sind die stärksten und glücklichsten Eindrücke meines Lebens; und dies im Alter von 69 Jahren von einer 53jährigen Frau.« Sie antwortete ihm postwendend: »Wir sollten versuchen, unsere Einhelligkeit nicht dadurch zu zerstören, indem wir unsere grausamen Tagebücher lesen oder einander mit Eifersucht und Vorwürfen quälen oder mit Verachtung dafür, womit sich der andere beschäftigt. Wir müssen unsere Beziehung behüten.«
Ihre Hinneigung zur Musik und platonische Verliebtheit in Tanejewverarbeitete Tolstaja in ihrem Roman Lied ohne Worte , in dem sie mit großer Empfindsamkeit über ihre damalige Zerrissenheit zwischen dem Pflichtgefühl der Ehefrau und Mutter und ihrer Leidenschaft erzählt.
Sergej Tanejew war lange Zeit ahnungslos, daß er der Grund zahlreicher Eifersuchtsszenen im Hause Tolstoj war. Doch dann kamen auch ihm die Gerüchte zu Ohren. Er zog sich zurück, wich seiner einstigen Musikfreundin aus. Bei den Tolstojs kehrte für einige Zeit Ruhe ein.
Das Zusammenleben um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert verlief recht harmonisch, und die Ehegatten schienen in stillem Einverständnis die Verschiedenheit ihrer Anschauungen zu respektieren. »Zuerst war ich traurig, daß wir heute nicht beieinander sind«, schrieb Tolstaja ihrem Mann am achtunddreißigsten Hochzeitstag im September 1900, »doch dann wandte sich mein Herz mit inniger Zärtlichkeit der Erinnerung an unser gemeinsames
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