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Eine Ehe in Briefen

Eine Ehe in Briefen

Titel: Eine Ehe in Briefen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja , Lew Tolstoj
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und freimütig wie die ihrer Mutter. [...] Ich sagte: »Wenn wir vom Schneesturm überrascht werden, drehen wir den Schlitten um, setzen uns darunter und erzählen uns Märchen.« »Aber es wird doch eiskalt sein?« »Wir klatschen in die Hände.« Und alle haben gelacht.
    Den Fluß überquerten wir nicht ohne Schwierigkeit; als wir auf dem anderen Ufer waren, setzte sich Gruschka auf den Bug des Schlittens und sagte: »Nun also, laßt uns Märchen erzählen, ich weiß eines«, und sie begann fabelhaft ein wunderschönes Märchen zu erzählen. Alle hörten gespannt zu und wurden so lieb, boten einander den Kaftan an, den sie als Decke benutzten, um sich vor dem Wind zu schützen. [...] Wir lauschten ihr, bis wir zum Dorf kamen. [...] Dies alles rührte mich sehr an.
    Ich küsse Dich und alle Kinder. Morgen werde ich hoffentlich von Dir und den Kindern hören – wie Ihr Euch befindet, was Ihr empfindet und ob es allen wohl ergeht.
    L.T.
    [Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
    [9. Dezember 1884]. Sonntag.
    [Moskau]
    Soeben erhielt ich Deinen Brief, und wieder muß ich Dir im Bombenhagel schreiben, wie ich den Lärm, die Betriebsamkeit und das Geschrei um mich herum nenne. Des Morgens stand ich auf (schlief gut), und sogleich bedrängten mich die Kinder, die Eislaufen gehen wollten. [...]
    Zu Deinem Brief. Mein erstes Empfinden nach der Lektüre war Trauer. Ja, wir sind seit unserer Kindheit verschiedene Wege gegangen. Du liebst das Dorf, das einfache Volk, die Bauernkinder, liebst das einfache Leben, das Du, als Du mich heiratetest, aufgabst. Ich bin ein Stadtkind, und wie auch immer ich denken mag und wie ich auch immer danach streben mag, das Dorf und das einfache Volk zu lieben – ich werde es niemals von ganzem Herzen lieben können; ich verstehe das einfache Volk nicht und werde es nie verstehen. Ich liebe allein die Natur, und in dieser Natur könnte ich bis ans Ende meiner Tage voller Begeisterung leben. [...] Es ist schade, daß Du Deine eigenen Kinder so wenig liebgewonnen hast; wenn sie Bauernkinder wären, dann wäre das anders. Wenn du Dich in die sittliche Atmosphäre des Dorfes begibst, verfolge ich Dein Tun voller Angst und Eifersucht und begreife, daß wir dann offensichtlich entzweit sind; und zwar nicht, weil ich dies wünsche, sondern weil ich Dir dahin, nun noch weniger als jemals zuvor, nicht folgen kann. Dein Leben ist [...] Entsagung, ewige Selbstentsagung! Wozu soll es denn gut sein, daß man jedes Ei, das man ißt, sich selbst zum Vorwurf macht? Bevor man sich über ein Ei verdrießt, gäbe es so viel anderes zu tun, das wirklich wichtig wäre, in bezug auf die seelische Beziehung seiner selbst zu allen anderen, mit denen das Leben verbunden ist. Das Blatt ist zu Ende und der Brief ist ein häßlicher geworden, doch ich schließe nun, da ich nichts Schönes zu schreiben weiß. Lebe wohl.

III. Dogma und Leben
    Während die Familie in Moskau ein Leben führt, wie es in ihren Kreisen üblich ist, arbeitet Tolstoj an der Vereinfachung des Lebens und versucht, allem vermeintlichen Luxus zu entsagen. Im Mai 1883 bevollmächtigt Tolstoj seine Frau, alle Vermögensangelegenheiten und die Drucklegung seiner Werke eigenverantwortlich zu führen. Seit 1885 gibt Sofja Tolstaja die Werke ihres Mannes als Verlegerin heraus. 1891 sagt Tolstoj sich von seinem Eigentum los, und die Familie vollzieht die Aufteilung des Besitzes. Des weiteren gibt Tolstoj öffentlich seinen Verzicht auf die Urheberrechte an seinen nach 1881 verfaßten Werken bekannt.
    Kurze Zeit nach der Silberhochzeit im September 1887 schreibt Tolstoj die erste Fassung seiner Kreutzersonate . Nachdem Sofja Tolstaja ihrem eigenen literarischen Talent vor der Hochzeit entsagt und ihre von Tolstoj gelobte Erzählung Natascha vernichtet hatte, beginnt sie im Alter von fast fünfzig Jahren wieder zu schreiben und verfaßt eine Entgegnung auf die Erzählung ihres Mannes ( Eine Frage der Schuld , 1892/93).

1886
    [Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
    [7. April 1886]
    [Moskau]
    Lieber Ljowotschka, soeben haben wir einen ausführlichen Bericht über die gestrige Lesung an Ljolja nach Jasnaja Poljana geschickt, wohin er mit Alcide gefahren ist, und deshalb berichte ich Dir nur kurz; die Lesung war um zehnmal feierlicher als die erste. Besonders lange und feierlich wurde nach »Wieviel Erde braucht der Mensch« applaudiert. Storoshenko 71 las sehr gut, und es wurde deutlich, daß der Stil dieser Erzählung

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