Eine Ehe in Briefen
erworbenes Wissen, eine gute oder schlechte Tat, gute oder schlechte Angewohnheiten uns lieber und nahestehender Menschen, sondern dies ist etwas, das wir eingerichtet haben und auf 100 verschiedene Arten neu einrichten können. – Ich weiß, daß Dich und die Kinder dies unerträglich langweilt (dies alles ist altbekannt), doch ich kann nicht zu wiederholen aufhören, daß unser Glück und Unglück nicht davon abhängen kann, ob wir alles Geld ausgeben oder viel erwirtschaften, sondern allein davon, was wir sind. [...] Das Leben unserer 9 Kinder wird dasselbe wie das unsrige sein, mit seinem Glück und seiner Trauer. Und so müssen wir danach streben, ihnen zu helfen, das zu erreichen, was sie glücklich macht, und sich von jenem zu befreien, was sie unglücklich macht; nicht Sprachen noch Diplome, noch das Gesellschaftsleben, noch wenig Geld tragen etwas zu unserem Glück oder Unglück bei. Und deshalb kann mich die Frage, wie groß unsere Ausgaben sind, nicht beunruhigen. Wenn man dieser Frage Wichtigkeit beimißt, so wird dadurch alles, was wirklich wichtig ist, in den Hintergrund gedrängt.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[27. Oktober 1884]
[Jansaja Poljana]
Gestern war ich den ganzen Tag, wie Du aus meinem Brief ersehen konntest, schlechter Stimmung. Der Magen, das Wetter, innerliche Unzufriedenheit meiner selbst. Heute morgen war ich derselben Stimmung. Nunmehr ist sie vergangen, Unzufriedenheit und Abscheu meiner selbst aber sind geblieben. [...] Es mutet lachhaft an zuzugeben, daß ich alle Zimmer im oberen Stockwerk durchschritt und ein starkes und schönes Gefühl beim Anblick all dessen empfand – lachhaft ebenso, daß ich mich ans Klavier setzte und mit größtem Vergnügen, ja sogar voller Rührung spielte.
Heute stand ich früh auf und ging, nachdem ich Kaffee getrunken hatte, spazieren. Ich arbeitete nicht, denn ich wollte den Gang meiner Gedanken nicht stören und hatte auch nur wenig geschlafen.
[...]
Schreib doch etwas ausführlicher von Dir, was der Doktor sagte – im Hinblick auf eine Schwangerschaft und darauf, was sie hervorruft. Ich habe beim Spazierengehen und Ausreiten viel nachgedacht. Ich muß schreiben, unbedingt, allerdings verspüre ich noch nicht jenes leidenschaftliche Gefühl, ohne welches das Schreiben nicht möglich ist. [...]
Sage Tanja Danke für ihre Briefe ( some more 99 ) und für ihre guten Absichten. Bitte, Tanja, bringe die Kopie zu Ende und sei von früh bis spät mit Farbe besudelt 100 .
Warum schreibst Du mir denn nicht, daß Du Sehnsucht nach mir empfindest und rufst mich nach Moskau? Es ist anders als im vergangenen Jahr. Ohne Erbitterung, sondern aufrichtig. Daß Du mir als ein Teil von mir fehlst, ist unzweifelhaft; aber man kann auch eine Zeitlang nur zum Teil leben. Wenn Du Sehnsucht empfindest, so sage es, und ich komme sogleich. Ich küsse Dich und die Kinder. Was die Wirtschaft betrifft, hast Dumich nicht ganz verstanden. Ich beginne hier etwas überaus Schwieriges – nämlich eine Wirtschaftsführung, die nicht zuerst die Wirtschaft im Augenmerk hat, sondern das Verhältnis zu den Menschen. Es ist schwierig, sich nicht ganz von der Arbeit hinreißen zu lassen, ohne die Beziehungen zu den Menschen zu opfern. Aber dies muß man, wenn man die Wirtschaft anständig führen will, doch jedesmal, wenn man zu entscheiden hat zwischen Gewinn und einem menschlichen Umgang, sollte man letzteres wählen. [...]
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
Montag, den 29. Oktober 1884.
[Moskau]
Der erste Eindruck am heutigen Morgen war Dein schöner, zärtlicher Brief voller Liebe zu mir. Den ganzen Tag war ich dessentwegen glücklich. Hätte ich mich sogleich hingesetzt, Dir zu antworten, dann hätte ich Dir einen schönen, wie Du zu sagen pflegst, Brief geschrieben. Doch gerade heute wurde ich vom Trubel um mich herum abgelenkt. [...] Um meine Gesundheit steht es heute nicht nur besser, sondern es geht mir fast wieder ganz und gar gut. Ljowotschka, ich hatte nicht den Mut, dem Doktor jene Fragen zu stellen, die Du andeutest. Ich war ja so blaß, wie er sagte, und zitterte ganz vor Scham und Schmerz. Er selbst hat auch nicht davon gesprochen. Wenn Du willst, frage ich ihn beim nächsten Mal, das wird in einer Woche sein. Du fragst, warum ich Dich nicht hierher rufe? Ach Ljowotschka, schriebe ich Dir in jenen Minuten, in denen ich Dich so gern bei mir hätte, dann schriebe ich Dir alles, was ich empfinde – und es
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