Eine Ehe in Briefen
verschlechtert, und in diesem Jahr ist sie grauenerregend und muß die Wohlhabenden, ob sie es wollen oder nicht, erschrecken. Es ist unmöglich, in Ruhe auch nur seine Kascha zu essen und zum Tee einen Kalatsch 77 , wenn man zugleich weiß, daß nicht weit von einem Kinder, die man kennt [...], ohne Brot zu Bett gehen, darum bitten, aber ihre Mütter ihnen keines geben können, da sie keines haben. Es sind ihrer so viele! Ganz zu schweigen vom fehlenden Saatgut, was die Menschen sich um ihre Zukunft sorgen läßt, denn es ist ihnen offensichtlich, daß sie nichts mehr zu erwarten haben, wenn sie nichts aussäen, außer das letzte, was ihnen geblieben ist, zu verkaufen und mit dem Bettelsack auf Wanderschaft zu gehen. Du wirst fragen: Was kann ich tun, wie kann ich helfen? Man kann helfen, indem man jenen, die bitten, Saatgut gibt und Brot, aber dies ist keine Hilfe, es ist nur ein Tropfen im Meer, und diese Hilfe verbietet sich selbst. [...] Was also tun? Wie also helfen? Nur durch eines: durch ein rechtes Leben. Das ganze Übel liegt nicht darin begründet, daß die Reichen die Armen beraubt hätten. Dies ist nur ein kleiner Teil der Ursache all dessen. Die Ursache des Übels liegt darin begründet, daß alle – die Reichen und auch die Armen – ein unmenschliches Leben führen, ein jeder nur für sich selbst lebt und den anderen unterdrückt. Daraus entspringt Elend und Armut. [...]
Ich entsinne mich, daß Du mir bei der Abreise etwas bezüglich des Schlüssels sagtest. Hast Du mir den Schlüssel mitgegeben?[...] Das Haus ist geputzt, und wenn es so bleibt, könnt Ihr in 4 Tagen kommen. Allein – wie steht es bei Euch? Was macht der Husten der Kleinen? – Lebe wohl, Liebste. Ich sah Dich heute im Traum, Du tatest mir weh. Das bedeutet das Gegenteil. Und so wird es auch sein. Ich küsse Dich und die Kinder. [...]
Ich warte, warte darauf, Euch alle bald hier zu sehen. Und ich bedanke mich für die Äpfel und Apfelsinen (überflüssig). Überhaupt bist Du allzusehr um mich besorgt. Dabei bin ich doch ganz gesund. Was auch immer ich verlange – alles ist da. Alles hast Du bereitgelegt.
[...]
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
[5. Mai 1886]
[Moskau]
Deinen niederdrückenden Brief über die Armut im einfachen Volk habe ich erhalten. Und hier in Moskau wird, wie gestern Nagornow berichtete, eine Beleuchtung geplant, die mehrere Zehntausend kosten soll! Deine Einstellung, daß man nicht helfen könne, scheint hoffnungslos. Doch für eine Umkehr in der Gesellschaft sind Deine Gedanken, Deine Bücher so wichtig, ein Beispiel aber, wie wir sündige, kleinmütige Menschen uns im Leben verhalten sollen, gibt es nicht. Die Liebe ist es, was der Menschheit unabdingbar ist, sie ist das wichtigste von allem. – Deiner Ausführung, es sei bedeutungslos, ob man einem oder zehn Menschen helfe, widerspreche ich. Wenn man einem zu essen gibt, so ist dies gut, wenn man zweien zu essen gibt, so ist es besser, wenn man einer Million Menschen zu essen gibt, so ist es noch besser. So gib denn auch Du den Hungrigen dort zu essen, und ich werde, wie Iwan der Narr, die Blätter zu Gold verwandelt, so viel Geld mit Deinen Werken verdienen, wie nur immer notwendig dafür.
[...]
Ich habe heute Kolitschka Ge alle Verlagsangelegenheiten 78 übergeben und fühlte mich wunderbar erleichtert. Nunmehr wird zu packen begonnen, und die ganze häusliche Betriebsamkeit nimmt ihren Lauf. Sascha hustet sehr stark, ich fürchte, es könnte Keuchhusten sein, und wenn es auch nur ein wenig feucht ist, so ist es besser, noch etwas hier zu bleiben. Nun, bis zum Sonntag ist es ja noch lange hin.
Lebe wohl, ich küsse Dich. Andrjuscha schreibt voller Mühe an einem Brief für Dich, er ist aber noch nicht fertig. Sie alle sind sehr artig. [...]
Der Schlüssel ist in der Schachtel, in der die Handarbeitssachen liegen. Diese Schachtel habe ich selbst in den Korb gelegt. Suche bitte gründlich und brich mir nicht mein feines Schloß auf.
Sonja.
5. Mai. Des Abends.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[6. Mai 1886]
[Jasnaja Poljana]
Die beiden letzten Tage habe ich sehr viel (relativ viel – 6 Stunden) gearbeitet und bin rechtschaffen müde. Iljas und Deinen Brief habe ich erhalten. Sie sind beide sehr schön. – Heute sprach ich mit Philipp über die Hunde. Sie fressen 4 Tschetw[ert] Hafer im Monat. Das sind 40 Tschetw[ert] im Jahr – zweimal so viel dessen, womit man Dutzende Familien glücklich
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