Eine Ehe in Briefen
Olsufjew berichtete, Du seiest sehr ungehalten darüber, daß Du nach Moskau kommen müßtest – dies ist jedesmal wieder schrecklich verletzend. Ich rufe Euch nicht hierher, denn erstens habe ich mich an die Trennungen gewöhnt, zweitens – fürchte ich Euch. Ich fürchte die unausgesprochenen und ausgesprochenen Vorwürfe, fürchte Deine leidenden und teilnahmslosen Erwartungen hier – und ich weiß schon gar nicht mehr, was schlimmer ist: die Trennung und die Sorge um Euch oder letzteres. [...] Lebe wohl, Ljowotschka, ich wünsche Dir, weiterhin gesund und munter zu bleiben. Ich küsse Dich und die Kinder.
S.T.
Ich bitte Euch, meine Briefe niemals im Beisein von Fremden und Popow laut zu lesen.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
[8. November 1892]
[Moskau]
Heute empfinde ich ganz besondere Sehnsucht nach Euch allen. Nun ist auch Tanja wieder fort. [...] Bist Du wohlauf, lieber Ljowotschka, und die Mädchen auch? [...] Ich fühle mich bisweilen sehr allein, die vier Kleinen bereiten mir nur Sorgen. Am wenigsten Verdruß macht mir Mischa. Wanetschka ist furchtbar lieb, doch allzu sensibel, und ich bin geradezu krankhaft um ihn besorgt. [...]
Poscha sagte mir, daß Ihr ganz und gar nicht nach Moskau zu kommen gedenkt. Ich verstehe, daß es Euch, d.h. Dir, in Jasnaja besser ergeht und das Leben dort ruhiger ist. Doch es tutmir so weh, daß das Leben der beiden Töchter ganz in ihren Verpflichtungen aufgeht. Sollten sie denn tatsächlich niemals ihr eigenes Leben leben? Wir haben nicht das Recht, ihre junge Existenz mit unserem egoistischen Dasein zu zerstören. Dessen sollten wir uns stets bewußt sein und sie liebevoll und uneigennützig unterstützen, soweit uns dies möglich ist, ohne sie für unsere eigenen Ziele zu mißbrauchen. Ich sage nicht, daß sie dafür unverzüglich nach Moskau kommen müssen. Ganz und gar nicht. Man muß ganz einfach aufmerksam zu verstehen suchen, was ihnen für ihr eigenes Glück unabdingbar ist. Sie taten mir plötzlich so leid. Erst waren sie in Begitschewka gebunden, nun sind sie ganz allein in Jasnaja, leben ausschließlich für Interessen nicht ihres eigenen, sondern eines fremden Lebens, das ihnen gar nicht zur Gänze zugänglich sein kann, da sie sich dafür, es vollständig zu verstehen, allein vom Alter her noch ein halbes Jahrhundert weiterentwickeln müssen. Doch die Jahre und die Jugend gehen dahin. Tanja ist abgereist, Mascha will unbedingt nach Begitschewka – doch es ist offensichtlich, daß sie dieses Leben nicht immer so weiterführen werden können. Lebe wohl, Ljowotschka, ich fürchte, Dich wird all dies verdrießen, doch ich als Mutter gräme mich dessentwegen. Du wirst fragen: »Und meinetwegen?« Nun, Du fliehst ja das Glück. Du wirst geliebt, mit Dir zu leben empfinde ich als Glück, doch Du schätzt dies nicht, Du brauchst dies nicht. Wie soll ich da Mitleid mit Dir haben? Mehr als Liebe kann ein Mensch nicht geben.
S.T.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
[9. November 1892]
[Jasnaja Poljana]
Gestern erhielten wir viel Post aus Tula, darunter auch die Briefe und Broschüre, die Du uns übersandt hast. [...] All dieserinnerte mich an das anrüchige, geschäftige Leben in Moskau. Von dem man sich freilich fernhalten kann, doch einfach ist dies nicht. – Du erkundigst Dich behutsam, wann wir kommen. Und Du schreibst, M[itja] O[lsufjew] habe erzählt, ich habe gesagt, wie schwer mir das Leben in Moskau ist. Dies entspricht nicht der Wahrheit. Ich sagte ihm, was ich immer sage, und zwar, daß es mir schwerfalle, jenen Ort zu verlassen, an dem ich mich nun befinde, an dem zu leben meiner Natur entspricht, und daß es gewichtige Gründe geben müsse, ihn zu verlassen. Ich werde mich mit Tanja beratschlagen, wenn sie hier ist, d.h., ich werde es ihr und Mascha überlassen, für mich zu entscheiden. Ich kann nicht selbst entscheiden; warum sollte ich denn hierhin oder dorthin fahren, wenn es nicht notwendig ist, d.h., wenn ich von niemandem gebraucht werde. Und es ist absolut überflüssig, daß Du schreibst, ich oder wir erhöben, wenn wir in Moskau sind, gegen jemanden unausgesprochene Vorwürfe. Ich bin in Moskau nicht schwermütig, sondern fühle mich dort ebenso wie hier. Doch wenn ich darüber nachdenke, dann weiß ich, daß es mir hier bessergeht. Ich weiß noch nicht, ob ich diesen Brief absenden werde. Denn er wird ganz sicher Widerworte herausfordern, das einzige, was ich aber möchte, ist, mit Dir
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