Eine ehrbare Familie
sie, um die zersplitterten, gezackten Enden als Waffen zu benutzen. Ulhurt, mit dem Rücken zum Tresen, stieß mit einem scharfkantigen Flaschenhals nach jedem Engländer, der sich ihm näherte. Völlig unerwartet hoben zwei junge britische Matrosen hinter dem Tresen ein volles Hundertliterfaß Bier hoch und stießen es, als würden sie einen Sack Kartoffelschalen über Bord werfen, in Richtung Ulhurt, der nicht ausweichen konnte.
Er sah das Faß auf sich zukommen, aber zu spät! Er sprang zur Seite, aber das Faß streifte seinen rechten Oberschenkel, er fiel hin, wurde gegen die Wand gepreßt, und sein ausgestrecktes Bein war der vollen Wucht des Fasses ausgesetzt. Steinhauer beobachtete, wie der Mund des Mannes sich zu einem lautlosen Schmerzensschrei öffnete. Später behauptete er, daß er das grauenvolle Krachen der Knochen gehört hätte, als das Bein zermalmt wurde - an achtundzwanzig Stellen gebrochen, wie der Chirurg sagte.
Oh, Scheiße, dachte Steinhauer. Seine letzte Hoffnung! Ulhurt kannte sich in der Seefahrt aus, Hafenanlagen, Gewalttätigkeit, drahtlose Telegrafie waren ihm vertraut, und er sprach fünf Sprachen fließend. Er wäre ideal gewesen. Und nun waren ihm mit Ulhurts Bein alle Hoffnungen in die Brüche gegangen.
Dann kamen die Hafenpolizei und die britische Marinepatrouille. Männer wurden verhaftet und abgeführt, andere auf Wagen geladen und ins nahe liegende Marinekrankenhaus gebracht.
Draußen auf dem Bürgersteig zeigte Steinhauer einem deutschen Marine-Polizeioffizier seine Ausweispapiere, der ihn daraufhin mit großem Respekt behandelte.
Am Morgen ging er ins Krankenhaus und erfuhr, daß das Bein des Maats bis zum Oberschenkel amputiert worden war. «Sein Leben hängt an einem seidenen Faden», sagte der Chirurg. «Aber ich glaube, der seidene Faden hält. Der Mann hat eine Ochsennatur.»
Gustav Steinhauer fuhr nach Berlin zurück. Zwei Wochen später wurde der nunmehr einbeinige Maat Hans-Helmut Ulhurt zu seinem größten Erstaunen in eine Privatklinik im Berliner Vorort Neuweißensee verlegt. Sein privater Geheimkrieg würde bald beginnen, nur wußte er das noch nicht.
3
Am 17. Januar 1910 gegen elf Uhr früh machte sich Charles Railton auf den kurzen Weg vom Foreign Office zum Kriegsministerium. Für Charles war die Verabredung überraschend gekommen, doch die wenigen Menschen, die sich beim britischen Geheimdienst auskannten, hätten ihm sagen können, daß diese Verabredung ein einschneidendes Ereignis in seinem Leben sein würde.
Es gibt keinen Aktenvermerk über Charles Railtons Besuch in dem winzigen Zimmer, das Captain Vernon Kell als Büro diente. Captain Kell war der erste Chef des britischen Sicherheitsdiensts, der damals noch MO5 hieß und später in MI 5 umbenannt wurde. Im Januar 1910 steckten der britische Sicherheitsdienst und die Spionageabwehr noch in den Kinderschuhen.
Charles war ein typischer Railton, sehr groß mit dichtem blondem Haar, einem ausgeprägten Kinn, hoher Stirn und einer langen, aristokratischen Nase und klaren blauen Augen, die, wenn notwendig, ebenso geschickt lügen konnten wie seine Zunge, was bei Damen gelegentlich sehr notwendig war. Doch bis zu diesem 17. Januar hatte Charles sich für einen Versager gehalten.
Charles war von Natur aus ein Abenteurer, und er war gegen seinen Wunsch und Willen in den diplomatischen Dienst gesteckt worden. John, sein älterer Bruder, war über die Armee in die Politik gelangt, und daher sollte Charles in die Diplomatie, wofür er nicht das geringste Talent besaß, was sich in den letzten Jahren nur zu deutlich erwiesen hatte. Seine augenblickliche Stellung war die eines Verbindungsmanns zwischen dem Foreign Office und der Admiralität, ein untergeordneter Posten, den er mit fünf anderen jungen Männern teilte und den er nur aufgrund der Beziehungen seines Vaters erhalten hatte - eine Tatsache, die ihm wohl bewußt war und ihm die letzten Illusionen über seine Befähigung geraubt halte. Aber nun war der General tot, und an diesem Morgen des 17. Januar war er ins Foreign Office gegangen, sein Kündigungsschreiben in der Tasche.
Seine Frau, die stille, dunkelhaarige Pfarrerstochter Mildred, hatte ihn an diesem Morgen voller dunkler Vorahnungen das Haus in der South Audley Street verlassen sehen. Seit dem plötzlichen Tod des Generals und der unerwarteten Erbschaft war sie zutiefst beunruhigt, da sie fürchtete, daß er ohne die Disziplin, die sein täglicher Dienst im Foreign Office ihm auferlegte,
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