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Eine Feder aus Stein

Eine Feder aus Stein

Titel: Eine Feder aus Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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erneut hinein, tiefer und tiefer in die Vergangenheit.

Kapitel 5
    Umso glaubhafter
    Neuerdings verbringe ich ziemlich viel Zeit auf Friedhöfen, dachte Daedalus, während er gemächlich die Gräberreihen abschritt. Einige von ihnen bestanden aus einfachen, über der Erde gelagerten Steintrögen, die so gebaut waren, dass sie einen Sarg aufnehmen konnten und danach mit Erde aufgefüllt wurden. Natürlich waren sie nicht so dauerhaft wie die steingedeckten Grüfte, die eher wie kleine Häuser für die Toten aussahen, aber billiger und einfacher instand zu halten.
    Auf Friedhöfen war es immer so friedlich. Und so heiß. Das Sonnenlicht wurde von dem weißen Marmor reflektiert und vom Beton aufgesogen, der noch Stunden nach der Dämmerung Wärme abgab. Er spürte niemanden hier, oder zumindest niemanden, den er kannte, und nahm trotzdem einen Umweg, vorbei an der verwitterten Fassade des Familiengrabs der Martins. Vorbei an Petras Mann, Armand. Armands Bruder und dessen Frau.
    Es hatte Daedalus überrascht, dass Armand Petra verlassen hatte. Nicht, dass sie ein Vorzeigepaar ehelichen Glücks gewesen wären, aber wer konnte das schon von sich behaupten? All diese Kinder zu verlieren, hatte seinen Tribut von den beiden gefordert, wobei das damals völlig normal gewesen war, sogar unter Hexen. Ohne all die Schutzzauber und heilenden Kräfte wäre es ihnen noch schlimmer ergangen. Daedalus war in jenen Jahren öfter in New Orleans gewesen und hatte von Familien gehört, die zehn von vierzehn Kindern oder sogar alle ihre Neugeborenen verloren hatten, jedes Jahr eines, bis sie schließlich verzweifelt aufgegeben hatten.
    In seiner famille hatte man gewusst, wie man Geburten verhindern oder hinauszögern konnte, und die Sterblichkeitsrate hatte im Vergleich zum Rest der Gegend bei einem Zehntel gelegen. Dennoch, überhaupt ein Kind zu verlieren, war schon mehr als man ertragen konnte, das wusste Daedalus.
    Er lief denselben Weg wieder zurück und quer über den Friedhof auf die andere Seite, die dem Fluss am nächsten war. Hier stand eine kleine schmiedeeiserne Bank, schon ein wenig verrostet, aber immer noch stabil. Als er sich darauf niederließ, wollte er ganz automatisch seine Frackschöße nach hinten schlagen. Er schüttelte den Kopf über seine Dummheit. Er trug ein einfaches weißes Hemd und eine grau-weiße Seersuckerhose. Ein Frack gehörte schon seit Jahrzehnten nicht mehr zur Pflichtausstattung eines Gentlemans. Aber der Mensch war eben ein Gewohnheitstier.
    Er lehnte sich zurück und stellte seinen Spazierstock neben die Bank. Es hatte eine Zeit gegeben, in der man Stöcke als modisches Accessoire getragen hatte, doch Daedalus hatte seinen ersten bereits mit knapp achtzehn bekommen. Sein Maulesel hatte ihn damals mit voller Wucht in den Oberschenkel getreten und dabei seinen Knochen zertrümmert. Durch alle möglichen von ihr kreierten Zauber hatte Petra ihm das Bein gerettet. Bei jedem anderen wäre es von Wundbrand befallen worden und hätte amputiert werden müssen, doch er hatte nur gehinkt. In den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hatte er es endlich chirurgisch richten lassen können, doch brauchte er noch mal fünfzehn Jahre, um nicht mehr zu humpeln. Jetzt konnte er wieder einwandfrei laufen, aber er trug immer noch einen Spazierstock mit sich herum. Mit manchen Gewohnheiten war eben schwer zu brechen. Abgesehen davon verlieh ihm der Stock auch einen unverkennbaren Hauch von Eleganz.
    Die Sonne stand bereits tief genug, um Daedalus in Schatten zu tauchen. Es war sehr, sehr interessant gewesen, Clio Martin letzte Nacht bei ihrem Zauber zu beobachten. Einen Zauber, von dem er wusste, dass Petra ihn sicher nicht erlaubt hätte. Ein Zauber, der den Ursprung von Melitas Kräften erkunden oder zumindest nachvollziehen sollte.
    Wirklich ausgesprochen interessant. Wie lange würde es dauern, bis ihr Durst nach Macht und Wissen triumphierte und über die Loyalität siegte, die sie Petra entgegenbrachte? Vielleicht nicht mehr allzu lange.
    Daedalus schloss die Augen und murmelte einen Spruch vor sich hin. Es war derselbe Spruch, den er jedes Mal aufsagte, wenn er hierherkam. Alle paar Tage, wann immer er in New Orleans war. Er öffnete die Augen, einen Ausdruck leiser Erwartung im Gesicht. Er fühlte sich töricht.
    Denn da war nichts.
    Forschend betrachtete Daedalus das Grab direkt vor ihm, das Grab der famille Planchon. Seiner Familie. Seine Eltern und die meisten seiner Vorfahren waren unten im

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