Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Feder aus Stein

Eine Feder aus Stein

Titel: Eine Feder aus Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
Vom Netzwerk:
Bezirk LaFourche begraben, in der Nähe ihrer alten ville. Aber nicht alle. Man hatte seinen Bruder hier beerdigt, zwanzig Jahre nachdem Daedalus unsterblich geworden war. Unsterblich und doch nicht in der Lage, seinen liebsten Bruder zu retten. Wann immer er konnte, kam er jetzt an dessen Grab.
    Nicht ein einziges Mal in 250 Jahren hatte sich seine Erwartung erfüllt: nirgends ein Zeichen, dass die Frau seines Bruders gekommen war, um diesem die Ehre eines Besuchs zu erweisen. Was natürlich nicht hieß, dass sie nicht trotzdem hier gewesen wäre. Nur hatte sie eben keine Spuren hinterlassen. Und warum sollte sie auch? Sie hatte niemanden von ihnen je wiedersehen wollen. In jener Nacht hatte sie Jean-Marie so gewiss verlassen wie alle anderen auch. Und Jean-Marie hatte nie wieder von ihr gehört. Oder zumindest gestand er es Daedalus nicht ein.
    Dann war er gestorben.
    Das untere Ende der zentimeterdicken Marmorplatte mit dem eingravierten Namen war abgebrochen und lag in großen Stücken auf dem Boden. Er hätte es wirklich reparieren oder ersetzen lassen müssen. Er las die Worte, wie er sie schon Tausende Male zuvor gelesen hatte, und noch immer ergaben sie genauso wenig Sinn wie damals, als er die Gravur in Auftrag gegeben hatte.
    Jean-Marie Planchon. Geboren: 1731. Gestorben: 1783. Geliebter Bruder von Daedalus Planchon. Treuer Ehemann von Melita Martin.

Kapitel 6
    Lehrling des Bösen
    Die Zeit zog sich wie ein nicht enden wollender emotionaler und physischer Schmerz dahin, der ihn sehr leicht in den Wahnsinn treiben könnte, dachte Marcel. Es waren beinahe drei Tage vergangen, seit er gerufen worden war. So lange hatte er gebraucht, um seinen Pass zu erneuern, ein Flugticket zu kaufen und nach Shannon, dem nächstgelegenen Flughafen, zu fahren. Drei Tage Höllenqualen, das Gefühl, als würden Spinnen unter seine Haut kriechen. Das magische Drängen des Beschwörungszaubers. Und es würde immer schlimmer werden, bis er Daedalus endlich gegenüberstand.
    Sein Flug ging in einer halben Stunde. Die ersten Leute drängten bereits aus dem Wartebereich und betraten das Rollfeld. Diese kleine Maschine würde ihn nach London bringen, wo er einen Anschlussflug nach New York und dann einen weiteren nach New Orleans nehmen würde.
    Er warf den Pappbecher mit dem Tee weg und griff nach seinem kleinen ledernen Handkoffer. Inmitten der hellen Lichter, dem Lärm des Radios, den Kindern und den Frauen, die so grell gekleidet waren wie Papageien, kam er sich noch deplatzierter vor als sonst. Er sehnte sich nach dem Kloster, nach der Stille und den gedämpften Geräuschen, dem beruhigenden Grau der Steine, dem abgetretenen Holz, den tiefen Stimmen und den allgegenwärtigen braunen Kutten.
    Er streckte die Hand nach der gläsernen Tür aus, die nach draußen führte, als er eine übellaunige Stimme hörte, die ihm etwas hinterherrief.
    »Vater, würden Sie mich segnen, Vater?«
    Marcel drehte sich um und erblickte eine vom Alter gebeugte und doch Achtung gebietende Frau, die ihr silbernes Haar am Hinterkopf hochgesteckt hatte. Sie kam mit festen Schritten auf ihn zu, wobei die strapazierfähigen Männerschuhe an ihren schmalen Füßen wie Kähne wirkten. Ihr Tweedrock war abgetragen, doch von guter Qualität.
    Sie lächelte und tat sich mit dem Hinknien etwas schwer. Eine knotige Hand griff nach dem Saum seiner Kutte. Noch bevor er sie davon abhalten konnte, hatte sie ihn bereits geküsst. »Segne mich, Vater«, murmelte sie mit gesenktem Kopf.
    Wieder empfand Marcel ein so heftiges Gefühl von Kummer und Verlust, dass ihm Tränen in die Augen traten. Noch nie hatte er geglaubt, einer so althergebrachten Glaubensbekundung würdig zu sein, doch in gewissem Sinne fühlte er sich nun, da ihn seine Vergangenheit erneut ins Verderben stürzte, noch mehr wie ein Betrüger.
    Er kniete sich ebenfalls hin. Ein bohrender Schmerz, der ihn an all das erinnerte, was er aufgab, ließ ihn zusammenzucken. Er nahm die Hand der Frau und half ihr beim Aufstehen.
    »Nein«, murmelte er. »Ich bin so unwürdig, dass Sie es sind, die mich segnen sollte. Ich sollte zu Ihren Füßen niederknien. Ich bin ein Nichts.«
    Ein verständnisloser Ausdruck lag auf dem Gesicht der Frau, während er wie zu sich selbst fortfuhr: »Ich bin schlimmer als nichts, denn in mir wohnt das Böse.«
    Die Frau wich zurück und ihre blassen blauen Augen suchten seinen Blick.
    Er sah ihre Angst und zwang sich, ihr freundlich zuzulächeln. Dann drehte er sich um und drängte

Weitere Kostenlose Bücher