Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
ein ertaubtes kleines Mädchen zu heilen, oder wie sie plötzlich Shakespeare verstehen gelernt und Gefallen an ihm gefunden habe - ihn ließ das alles kalt, nur eines beschäftigte ihn: ob sie ihn liebe und ob die Hochzeit bald stattfinden könne.
Freunde, Verwandte und Nachbarn kamen, um Anna zu gratulieren, und sie nahm die Gratulationen stolz und wohlgemut entgegen, ohne einen Moment daran zu zweifeln, daß ihr Glück grenzenlos sein werde.
Nur einmal wurde ihr ein zufälliger, aber nicht wiedergutzumachender Schlag versetzt, der ihre glückliche Verfassung zunichte machte.
Auch eine alte Gutsbesitzerin aus der Nachbarschaft war gekommen, die aus irgendeinem Grund den Fürsten nicht mochte. Im Gespräch mit Olga Pawlowna gab sie hinter vorgehaltener Hand in vulgären Ausdrücken zu verstehen, daß der Fürst ein Schürzenjäger sei, und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Olga Pawlowna wurde verlegen, machte dann jedoch eine wegwerfende Handbewegung und sagte:«Ach, vor der Heirat sind sie alle so.»
Anna, die nie einen Gedanken darauf verwendet hatte, daß der Fürst mit seinen fünfunddrei ßig Jahren schon jemanden geliebt haben konnte,
geriet in schreckliche Verwirrung; die Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie ging in ihr Zimmer und blieb lange schweigend am Fenster sitzen, um sich zu beruhigen.
Der Fürst trat ein und beugte sich leise über sie. Sie wandte sich um, griff nach seinem Ärmel und zog ihn neben sich.
«Was sind Sie heute so ernst, Anna, was ist mit Ihnen?»fragte er.
«Ich muß unbedingt mit Ihnen reden. Sagen Sie mir die Wahrheit, Fürst, aber die reine Wahrheit. Haben Sie vor mir viele geliebt? Wie viele?»
Aus ihren Worten klangen Tränen heraus.
«Wozu fragen Sie danach, Anna, und quälen damit sich und mich. Natürlich kann ich in meine Ehe nicht solche Reinheit einbringen, wie ich es gern wollte. Ich bin ja schon so alt, Anna, und das Vergangene ungeschehen zu machen, vermag ich nicht», fügte er wie bedauernd hinzu,«ich kann mich nur für die Zukunft verbürgen. Aber jenes, das Gewesene, war keine Liebe, das versichere ich Ihnen, so habe ich nie geliebt. Das ist etwas Neues, Unverhofftes, Wunderschönes. Davon hatte ich keine Ahnung, und davon habe ich nicht zu träumen gewagt.»
Sie sah ihn fest an, als frage sie, ob das wahr sei, und fuhr zusammen.
Der Fürst nahm dieses Zusammenfahren wahr, begriff es und rückte dichter heran. Sie wich etwas zurück, doch er faßte ihre Hände, um sie leidenschaftlich zu küssen.«Sie lieben mich, Anna, ja?»
«Ja, ja», erwiderte sie leise.
Er beugte sich vorsichtig noch näher über ihr Gesicht und küßte sie zum erstenmal auf die Lippen.
Anna rührte sich nicht, sie saß wie erstarrt. Eine ihr bislang unbekannte leidenschaftliche Erregung durchfuhr sie, und es überkam sie heiß. Vor ihrer gequälten Phantasie zog eine ganze Kette von Frauen vorbei, die er geliebt hatte. Sie war plötzlich versucht, ihn fest zu umarmen und zu schreien:«Untersteh dich, eine außer mir zu lieben!»Der Kopf drehte sich ihr, sie zitterte wie im Fieber und konnte nicht verstehen, was in ihr vorging.
Der Fürst indessen erkannte, was passiert war, gab ihre schmalen zitternden Hände frei und trat zur Seite.
Anna blieb ein paar Sekunden mit gesenktem Kopf sitzen, dann sagte sie streng und ruhig:«Gehen Sie jetzt, ich komme bald.»
Als sie zum Mittagessen im Speisezimmer erschien, nahm sie matt und in sich gekehrt am
Tisch Platz, ohne etwas anzurühren. Nach dem Essen machten alle eine Ausfahrt zum Nachbarweiler. Anna mied den ganzen Abend das Gespräch mit dem Fürsten. Sie lief in den Wald, sammelte neu erblühte späte Blumen, atmete die frische Luft.«Wie leicht und schön ist hier alles!»dachte sie unwillkürlich.«Das Herz aber ist so schwer! Vergessen, nur schnell vergessen!»
Zwei Tage später fuhr die Mutter mit Anna nach Moskau zum Maßnehmen für die Mitgift. Teilnahmslos ließ sie alles mit sich geschehen. Weder die Kleider noch die schönen Sachen, noch die Geschenke des Bräutigams interessierten sie. Ihre Mutter machte sich große Sorgen, weil ihre Tochter so ernst und blaß war und nichts aß. Anna zeigte sich in Moskau sehr ungeduldig und hatte es eilig mit der Heimkehr. Die Gegenwart des Fürsten war für sie zur Notwendigkeit geworden, nur wenn sie mit ihm zusammen war, wurde sie ein wenig lebhafter. Doch hatten sie die Rollen getauscht. Jetzt war er gesprächig und behandelte sie liebevoll und sanft, als gelte es, sie zu beschützen
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