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Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja

Titel: Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja Ursula Keller Alfred Frank Ursula Keller
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mit absoluter Sicherheit und verschlang Anna deshalb mit diesem fast animalischen Blick, der sie so verwirrte und erschreckte.

IV
    Obwohl der Fürst die Heimfahrt hätte antreten sollen und sogar davon gesprochen hatte, daß er es nicht erwarten könne, seine Mutter wiederzusehen, brachte er es nicht fertig abzufahren und erschien statt dessen tagtäglich bei den Ilmenews. Er schützte Geschäfte in der nahe gelegenen Kreisstadt vor und bat Olga Pawlowna um die Erlaubnis, sich in ihrer netten Familie davon erholen zu dürfen. Alle freuten sich über die Gesellschaft des lieben Gastes, und so kam er Tag für Tag. Er fühlte deutlich, daß es für ihn kein Zurück mehr gab. Seine Leidenschaft für Anna verstärkte sich von Mal zu Mal und gewann solche Macht über ihn, daß er nächtelang nicht schlief,
von Zweifeln geplagt wurde und vor allem befürchtete, bei ihr auf Befremden statt auf Liebe zu stoßen, wenn er ihr einen Antrag machte.
    Er wohnte in der Kreisstadt in einem schmutzigen Hotelzimmer, verzehrte sich nach Anna, schrieb ihr Briefe, die er mit sich herumtrug, ohne einen Entschluß fassen zu können. So vergingen zwei Wochen.
    Unterdessen lebte Anna weiter ihr leichtes, fröhliches und auf seine Art sinnvolles Leben. Was kann glücklicher sein als diese jungfräuliche Ungebundenheit, die kluge, mit gesundem Menschenverstand gesegnete Mädchen so gut und vielseitig zu nutzen wissen und die abnorm veranlagte damit vergeuden, sich die Nerven zu strapazieren?
    Anna malte, pflanzte zusammen mit dem Gärtner und den Bauernmädchen von ihr bestellte seltene Pflanzen und Bäume, die sie akklimatisieren wollte, schrieb Tagebuch, erteilte Mischa Musikunterricht und übte selbst schwierige Fugen von Bach. Außerdem war sie, Florinskis«Leitfaden der Heilkunde»bei der Hand, häufig im Dorf unterwegs zu den Kranken und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit und Kraft darauf, solchermaßen ihre Unkenntnis und Unerfahrenheit auf diesem Gebiet wettzumachen.

    Der Tag war auf nützliche und froh machende Weise ausgefüllt, und die ständige Anwesenheit des Fürsten, die dunkle Ahnung, daß er ihren Anblick genoß, verliehen Anna noch mehr Energie und Aufgeschlossenheit für alles. Wenn er einmal ausblieb, weil er Bedenken hatte, täglich zu erscheinen, kam ihr der Tag unvollkommen und trübselig vor, jegliches Tun verlor seinen Sinn. Sie wartete auf ihn, um ihm über alles zu berichten, was sie in seiner Abwesenheit erlebt hatte, vertraute ihm begierig ihre Interessen an, betrog sich dabei selbst - stand doch hinter seiner Anteilnahme sein bloßes Entzücktsein von ihrer Person - und erkannte nicht, daß ihm lediglich an ihrem Äußeren und ihrer Jugend gelegen war.
    Natascha eröffnete die Schule mit abendlichem Leseunterricht für die Bauernmädchen. Sie widmete sich dieser Tätigkeit voller Hingabe und erstickte damit in sich einen gewissen Neid auf ihre Schwester angesichts deren Bevorzugung durch den Fürsten, den sie ebenso mochte wie alle anderen. Seine Begeisterung für Annas Lebensführung und ihre Betätigungen, die sie mit einer gewissen Verachtung betrachtete und für nutzlos hielt, verwunderte sie.
    Es war Sonntag; in dem kleinen Nebengebäude,
das als Schule diente, saß an einem schlichten Holztisch ein Dutzend Bauernmädchen. Einige lasen ernsthaft und konzentriert, mit dem Finger silbenweise über den Text in ihrem Buch fahrend, andere malten sorgfältig Buchstaben und flüsterten die geschriebenen Wörter vor sich hin. Die hochgewachsene hübsche Ljubascha saß neben Natascha und las flüssig eine Erzählung aus dem Bauernleben. Es war gemütlich in diesem zweckmäßig eingerichteten hellen kleinen Zimmer, doch alle wirkten müde und gelangweilt. Natascha gab sich große Mühe, verstand es aber nicht, ihren Unterricht lebendig zu gestalten.
    Die Tür öffnete sich leise, und Anna trat ein. Sie ging lautlos zu einer Zimmerecke, setzte sich hin und hörte zu. Der Fürst war den ganzen Tag nicht dagewesen, und sie hatte Sehnsucht nach ihm, ohne sich das eingestehen zu wollen. Auf dem Tisch lag ein Evangelienbuch; sie griff danach und dachte sich allerlei Fragen aus, die sie bewegten.
    Beim Lesen der vermeintlichen Antworten ließ sie sich fesseln von dem heiligen Buch, das über die schwersten Zweifel im Leben hinweghilft.
    Plötzlich verlangte es sie zu erfahren, auf welcher Stufe der geistigen Entwicklung diese Mädchen
standen. Ihr fiel auch ein, wie ihr der Fürst erzählte hatte, was für Antworten die

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