Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
erkundigte sich, wie es die Anker an Pawliks Matrosenjacke annähen solle. Anna heftete sorgfältig die Anker an, zeigte ihm, was es falsch gemacht hatte, und setzte sich, nachdem sie das Mädchen weggeschickt hatte, ans Fenster, um ein aus der Bibliothek besorgtes altes Buch zu lesen:« Méditations »von Lamartine 12 . Allmählich vergaß sie, was sie vor wenigen Minuten noch beschäftigt hatte, und genoß die feinsinnige Lyrik des eleganten Franzosen. Ihre glückliche Erholung hielt jedoch nicht lange an.
«Die Lehrerin ist da», meldete der Lakai.
«Bitte sie herein», sagte Anna müde.
Die Schullehrerin trat ein, eine stille, sympathische junge Frau mit liebem Kindergesicht.
«Sie kommen sicher wegen der Bücher, Lidia Wassiljewna. Haben Sie die Liste zusammengestellt? Ich danke Ihnen. Ich bestelle sie ganz bestimmt.»
«Das hier betrifft die Lektüre und das die Allgemeinbildung. Ich denke, den wissenschaftlichen Teil werde ich selbst übernehmen, hier muß man beim Vorlesen Erläuterungen geben. Gut, daß Sie einen Globus gekauft haben und
Reliefkarten. Das interessiert sie ungemein, und in Geographie läuft es gut.»
«Das freut mich aber.»
«Wenn Sie wegfahren, Fürstin, wer wird mir dann beistehen?»
Anna lud die Lehrerin zum Essen ein, und um fünf Uhr fanden sich im Speisezimmer nach und nach die Kinder, die Gouvernanten und der Verwalter ein. Anna unterhielt sich freundlich mit allen. Der Verwalter fand es ebenso bedauerlich wie die Lehrerin, daß die ganze Familie in die Stadt fuhr, und berichtete der Fürstin über die Situation der Bauern in diesem Jahr. Angelegenheiten der Gutswirtschaft kümmerten Anna nicht, die allgemeine Entwicklung der wirtschaftlichen Lage der Region und des Volkes indessen verfolgte sie mit Interesse.
Als ihr Arbeitstag zu Ende ging und sie in ihrem Zimmer allein blieb, überkam sie ein wehmütiges Gefühl der Einsamkeit.«Da bin ich nun verheiratet, einen Freund aber habe ich nicht in meinem Mann», dachte sie.«Auch als Liebhaber entzieht er sich mir. Weshalb das! Weshalb nur!»
Anna trat zum Spiegel und zog sich langsam aus. Nachdem sie das Kleid abgelegt und ihre Arme und ihren gleichermaßen wohlgeformten
Hals entblößt hatte, besah sie sich aufmerksam. Dann legte sie die Wange an die Schulter, richtete ihren Blick auf ihre prallen, milchgefüllten, ungewöhnlich schönen Brüste und versank in ernsthaftes Nachdenken.«Ja, das ist es, was er braucht …»
Sie erinnerte sich an die leidenschaftlichen Küsse ihres Mannes und entschied mit aufblitzenden Augen: Wenn ihre Macht in ihrer Schönheit lag, dann würde sie sie zu nutzen wissen. Mit dem Entschluß, ihre Ideale der Keuschheit kurzerhand aufzugeben und ihre Vorstellungen von geistiger Kommunikation mit dem geliebten Mann zurückzustellen, stand für sie fest, daß ihr Mann sie nicht nur nicht verlassen, sondern zu ihrem Sklaven werden würde.
Sie löste ihr an den Schläfen und im Nacken sich ringelndes, goldig schimmerndes dunkles Haar, hob es an, drehte den Kopf und betrachtete lange ihr Gesicht. Dann nahm sie ihre federbesetzte Mantille 13 vom Sessel und legte sie an ihren Busen. Der Kontrast zwischen dessen Weiße und den dunklen Federn war frappant.
Anna fiel die Dame ein, die jetzt zusammen mit ihrem Mann auf der Jagd war, und das gewohnte Gefühl der Eifersucht stieg mit unerträglicher Schmerzhaftigkeit in ihr auf.
Aus dem Kinderzimmer war das Geschrei des Kleinen zu hören. Anna ließ die Mantille fallen, steckte ihre Haare hoch, warf sich einen roten persischen Chalat 14 über und lief in das Kinderzimmer.
Sie nahm den Kleinen auf den Arm, schmiegte ihre heißen Lippen an seine kleine Wange und flüsterte leidenschaftlich, ohne sich ihrer Gedanken bewußt zu sein:«Verzeih mir, verzeih, mein Würmchen!»
II
Als Anna zwei Tage nach der Abreise des Fürsten mit den Kindern spazierenging, bemerkte sie auf der in die Stadt führenden Straße eine auf sie zukommende Kutsche.
«Wer mag das wohl sein?»überlegte sie. Beim Herannahen des Gefährts gerieten die Kinder in Aufregung, begannen zu schreien und hatten ihre Freude an dem Schellengeläut.
Anna nahm drinnen das unbekannte Gesicht eines Mannes wahr, der sich bei ihrem Anblick ehrerbietig, aber steif verneigte.
«Ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte», sagte sie.
Die Kutsche ließ die Anhöhe hinter sich und fuhr in beschleunigtem Tempo die von alten Birken gesäumte breite Allee hinauf zum Haus.
Der Ankömmling stieg aus und
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