Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
erkundigte sich bei dem auf ihn zutretenden Diener, ob der Fürst zu Hause sei. Irritiert, daß dieser erst morgen zurückerwartet wurde, blieb er nachdenklich im Vorraum stehen. Unterdessen war die ganze fröhliche Familie nach ihrem Spaziergang wieder am Haus angelangt. Anna beeilte sich, als erste hineinzugehen, und fragte den Unbekannten, mit wem sie die Ehre habe.
Der verwirrte Besucher brauchte ein paar Sekunden, bevor er mit einem leichten Akzent sagte:«Es ist mir sehr peinlich, Fürstin, so unerwartet in Ihr Haus eingefallen zu sein, aber ich bin ein alter Freund Ihres Mannes, mein Name ist Dmitri Bechmetew. Zwölf Jahre lang habe ich meinen besten Freund nicht gesehen und bedaure sehr, ihn nicht anzutreffen.»
«Wie, Sie sind Dmitri Alexejewitsch Bechmetew? Ich habe so viel von Ihnen gehört! Es ist, als wären wir seit langem miteinander bekannt. Treten Sie ein, bitte, treten Sie ein. Morgen kommt mein Mann zurück, heute dürfen Sie sich mit uns langweilen.»
«Ich werde mich glücklich preisen, Fürstin,
wenn ich Sie nicht langweile», sagte Bechmetew mit einer unnatürlichen Stimme, die ihr gar nicht gefiel.«Wie er sich spreizt», dachte sie.
Anna zog in ihrem Zimmer ein anderes Kleid an, kämmte sich mit besonderer Sorgfalt und ging ins Wohnzimmer zu dem Besucher, den sie mit ihrer blühenden Schönheit und ihrem unnachahmlich leichten Gang beeindruckte. Ihr leicht zurückgeworfener kleiner Kopf, den eine dunkle Mantille umfaßte, fiel ihm ebenso auf wie die zartrosa Farbe ihres von der Luft erhitzten Gesichts und ihre wundervollen großen schwarzen Augen, die ihn freundlich und aufmerksam ansahen.
«So eine Frau hat also mein Freund», dachte er nicht ohne Neid.
Aus dem, was Bechmetew ihr erzählte, erfuhr Anna, daß er aufgrund seiner schwachen Gesundheit kurz nach der Hochzeit zu einem Auslandsaufenthalt gezwungen gewesen war, in einem wärmeren Klima. Daß er mit seiner Frau in Algier gelebt, diese sich aber dort gelangweilt hatte, weshalb sie nach Paris davongefahren war. Kinder hatten sie keine. Von der Sehnsucht nach Rußland und den Verwandten ergriffen, hatte er beschlossen, für unbestimmte Zeit in die Heimat zurückzukehren. Aus Bechmetews Andeutungen
wurde Anna klar, daß er sich mit seiner Frau überworfen hatte, und sie vermied es, ihm Fragen zu stellen.
Bechmetew hatte sich im Dorf einquartiert, bei seiner Schwester Warwara Alexejewna, die er nach über zehn Jahren wiedersah. Das Anwesen seiner Schwester, einer bereits in die Jahre gekommenen Witwe, lag zwölf Werst von dem des Fürsten entfernt, Anna hatte sie ein paarmal besucht. Sie war eine sehr gebildete, feinsinnige Frau, die Mann und Kind in früher Jugend verloren und seitdem ihr Leben dem Wohl der Bauernkinder geweiht hatte. Neben einer Musterschule, in der sie bereits die dritte Generation erzog, hatte sie eine Bibliothek, eine Kinderklinik und ein Armenhaus eingerichtet. Sie konnte den Anblick eines kranken, frierenden oder hungernden Kindes nicht ertragen, doch abgesehen von den Kindern, berührte und interessierte sie nichts auf der Welt. Sie wirkte streng, kühl und ungesellig.
Anna behielt Bechmetew zum Essen da. Allerdings war die Atmosphäre an diesem Tag angespannt. Die Gouvernanten, der Verwalter, die Kinder - alle fühlten sich durch die Gegenwart des Gastes gehemmt. Eine Ausnahme bildeten Manja und Pawlik, die einen unbezähmbaren
Lachanfall bekamen, so daß ihnen sogar mit Entzug des Törtchens gedroht werden mußte.
Nach dem Essen bat Anna Bechmetew ins Wohnzimmer, hielt jedoch an ihrer Gewohnheit fest, die Kinder um sich zu versammeln und sich mit ihnen zu beschäftigen, bis sie schlafen gingen. Verschiedene Alben, Bilderbücher, Spiele und Arbeiten wurden herbeigeholt. Jeder nahm sich das Seine vor. Manja strickte fleißig an einem Schal für den alten Gärtner, ihre kleinere Schwester spielte mit den Würfeln und suchte nach Buchstaben, die sie kannte, Pawlik malte. Anna griff ebenfalls zu ihrem Block, um ein Porträt der dabeisitzenden Engländerin zu skizzieren.
Bechmetew zog Pawlik zu sich herüber, setzte ihn neben sich und begann in seinem Zeichenblock zu malen. Während er ihm von Algerien erzählte, zeichnete er braunhäutige Menschen mit großen Turbanen. Pawlik nahm begeistert seinen Block und zeigte die Bilder Anna.
«Guck mal, Mama, wie Dmitri Alexejewitsch malen kann!»
«Sie sind also Maler?»fragte Anna, die die Handschrift des erfahrenen Meisters erkannte.
«Ja, Fürstin, sofern man
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