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Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja

Titel: Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja Ursula Keller Alfred Frank Ursula Keller
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blumengeschmücktes Tischchen, auf dem die kalte Abendmahlzeit serviert war. Sie unterhielten sich über das soeben Gelesene; am Hauseingang stand Bechmetews Kutsche, Glöckchen klingelten.
    Eine zweite Kutsche näherte sich dem Haus, ihr Glöckchenklang mischte sich mit dem anderen, jemand kam herein. Anna und ihr Gesprächspartner überhörten all das und bemerkten auch nicht, wie der Fürst ins Zimmer trat.
    Anna sprang erschrocken auf und fragte:«Ist etwas passiert?»
    «Nein, nichts, ich hatte bloß keine Lust mehr zum Jagen», sagte der Fürst.«Grüß dich, Dmitri, und adieu. Entschuldige, ich bin sehr müde», fügte er hinzu, wobei er seiner Frau einen zornigen Blick zuwarf und seinem Freund die Fingerspitzen reichte.
    «Zu Abend essen willst du nicht?»fragte Anna.
    «Nein, ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.»
    Der Fürst ging, während Bechmetew sich von Anna verabschiedete und losfuhr.
    Anna lief zu ihrem Mann, dessen Unruhe ihr nicht entgangen war. Er saß in seinem Arbeitszimmer auf dem Diwan und rauchte. Da sie den Grund ahnte und seinen eifersüchtigen Charakter
kannte, setzte sie sich zu ihm, um ihn mit unnatürlicher Stimme zu befragen, was ihn zur Rückkehr bewogen hatte.
    «Was schon - ich habe es doch gewußt, daß du wieder dieses Tête-à-tête arrangieren würdest. Begreifst du denn immer noch nicht, was sich nicht schickt?»
    «Ich habe ihn nicht hergeholt, aber ich konnte ihn auch nicht davonjagen.»
    «Du mußtest ja nicht mit ihm kokettieren. Meinst du, ich sehe es nicht?»
    «Kokettieren? Ich? Nun ist es aber gut, mein Freund. Daß du dich nicht schämst, so zu reden. Wenn du wüßtest, welche Sehnsucht ich habe, wenn du nicht da bist, und wie froh ich bin, daß du zurückgekommen bist. Lassen wir den Streit, bitte!»
    «Gewiß hat sie sich schuldig gemacht», dachte der Fürst bei sich.«Warum bist du so erschrokken, als ich eintrat?»wollte er wissen.«Was hat er zu dir gesagt?»Er erboste sich immer mehr.
    «Wirklich, ich weiß es nicht mehr», sagte Anna, die der Ton ihres Mannes ängstigte und sein wutverzerrtes Gesicht bereits ärgerlich machte.«Wir haben Lamartine gelesen und über ihn gesprochen...»
    «Und euch dabei mit poetischen Gefühlen befaßt
...», sagte der Fürst ironisch.«Ich glaube dir kein Wort. Du bist nicht in der Lage, mir zu erzählen, was ihr gemacht und worüber ihr gesprochen habt?»schrie er. Er packte Annas Hand und preßte sie, als plötzlich die Kinderfrau an die Tür klopfte und Anna zu dem Kleinen rief.
    Erregt und gekränkt riß sich Anna los und lief in das Kinderzimmer. Der Kleine schrie ungeduldig.
    «Diese Egoisten von Männern!»dachte Anna entrüstet.«Ihn plagt die Eifersucht, während ich allein zu Hause sitzen und mich sehnen kann, jetzt wird der Kleine sich noch an meiner erregten Milch satt trinken und die ganze Nacht nicht schlafen! Und ich darf mich quälen!»
    Sie konnte sich nicht beruhigen. Ihre Empörung, ihre Verachtung gegen den, den sie so sehr zu lieben versucht hatte und mit dem ihr Leben verbunden war, wollten sich einfach nicht legen.«Nichts und niemanden braucht er: weder die Kinder noch mich. Nichts an unserem Leben interessiert ihn. Mich braucht er nur als Gegenstand. Und daß bloß seine Eigenliebe nicht verletzt wird! Ja, ich bin seine Frau! Wage keiner, mit ihr auch nur ein Wort zu wechseln...»Annas Verdruß wuchs immer mehr.«Wenn er aber selbst mit jemandem liebäugelt, dann ist nichts
dabei. Mein Gott, mein Gott!»Das Selbstmitleid trieb ihr Tränen in die Augen.
    Der Kleine verschluckte sich und fing an zu weinen. Anna erschrak, drehte ihn auf die Seite und flüsterte unter heißen Küssen:«Mein Süßer, mein Süßer, beruhige dich.»
    Sie betrachtete aufmerksam das kleine Gesicht ihres schlafenden Söhnchens und sagte in Gedanken zu ihm:«Nicht um deines Vaters willen, der mich gekränkt hat, sondern deinethalben, mein Würmchen, werde ich niemals etwas tun, weswegen du dich deiner Mutter schämen müßtest.»
    Nachdem sie den Kleinen gestillt hatte, ging Anna in allen Zimmern die Bettchen ihrer schlafenden Kinder ab. Sie bekreuzigte sie alle der Reihe nach und blieb am letzten stehen, um zu beten. Alles ringsum schlief. Sie stand lange mit gesenktem Kopf bei dem Kind, konzentriert und ernst.
    Gäbe es in der Alltäglichkeit unseres Erdendaseins nicht diese Minuten der strengen Einkehr, der unnachsichtigen und konzentrierten Aufmerksamkeit für unser Innenleben, dieser Auge in Auge erfolgenden

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