Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
machte, nahm niemand gern Abschied von diesem glücklichen, stillen Dorfleben.
Allein der Fürst hatte es eilig mit der Abreise nach Moskau. Er langweilte sich offensichtlich zu Hause, suchte nach Vorwänden, in die Stadt und zu den Nachbarn zu fahren, und war überall auf Zerstreuung aus. Anna beunruhigte das sehr. Sie sah, daß er sich mehr und mehr der Familie und ihrem Einfluß entzog und ihr immer weniger Liebe zuteil werden ließ. Sie befürchtete,
daß er ganz weggehen und die Familie zerbrechen könnte, die sie in den elf Jahren ihres Ehelebens zu behüten bestrebt gewesen war. Sie beschloß, ihren Mann mit aller Kraft zu halten, nach Wegen und Mitteln zu suchen, ihn wieder an sich und die Familie zu binden. Von diesen Mitteln hatte sie nur eine dunkle Ahnung, sie waren ihr zuwider, doch was bot sich ihr denn Besseres?
«Wenn ich meine frühere Reinheit und meine Mädchenideale schon mehr oder weniger einbü ßen mußte, so werde ich zumindest die Reinheit des Familienideals bewahren. Ich darf nicht zulassen, daß mein Mann, der Vater meiner Kinder, die Familie verläßt und anderwärts zweifelhafte Freuden findet.»
Von diesen Gedanken beherrscht, brach Anna mit ihrer Familie nach Moskau auf.
IV
An dem großen, hellerleuchteten vornehmen Haus in einer der saubersten Straßen Moskaus fuhren am Abend des zweiten Dezember zahlreiche Kutschen vor. Das Fürstenpaar gab sonntags abends Gesellschaften, und sein Salon war
stets gefüllt mit unterschiedlichsten Besuchern. Nirgends ging es so zwanglos, fröhlich, elegant und interessant zu wie im Hause der Fürstin Prosorskaja. Stets freundlich, heiter und schön, verstand sie es, in ihrem Haus Leute zu versammeln, die sich gern trafen, und sie selbst schuf voller Hingabe eine Atmosphäre, in der sich alle wohl und frohgemut fühlten, so daß sich hier binnen kurzem der angenehmste und größte Besucherkreis herausbildete.
Der Fürst konnte sich nicht genug wundern: Was war nur geschehen mit seiner bisher so menschenscheuen, allen Gesellschaften abgeneigten Frau? Sie wirkte wie ausgewechselt, empfing Gäste und nahm Einladungen an, schmückte sich gern, dachte sich die vielfältigsten Belustigungen und Zerstreuungen aus, in die sie ihren Mann einzubeziehen pflegte.«Allein langweile ich mich oder fühle mich gehemmt», sagte sie, und der Fürst war immer an ihrer Seite. Er hatte ein wachsames Auge auf sie und ihre Verwandlung, die sie anziehend, vielseitig und beliebt machte. Die so unverhofft zutage getretene neue Seite ihres Charakters und ihres reizvollen Wesens beunruhigte ihn.
An diesem Abend sollte bei Anna ein prominenter Schriftsteller seine neue Erzählung vorlesen.
Er war aus der Provinz nach Moskau gekommen, um ein Buch herauszubringen. Eine zahlreiche Gesellschaft hatte sich versammelt, und Anna sah sich in ein lebhaftes Gespräch verwickelt, ausgelöst durch den Streit zweier junger Frauen über Kindererziehung. Die eine von ihnen, Gräfin Welskaja, meinte, den Ausschlag bei der Erziehung gebe, daß man persönlichen Einfluß auf die Kinder nehme, es komme vor allem darauf an, mit ihnen zusammenzusein, ihre charakterliche und seelische Entwicklung zu kontrollieren und sie dabei zu unterstützen. Die andere, die fröhliche und leichtsinnige Baronin Insbruk, behauptete, das beste sei, die Kinder sich selbst zu überlassen, alles sei angeboren, mit Erziehung könne man überhaupt nichts erreichen, wozu also sein persönliches Leben beeinträchtigen? Alle ereiferten sich, redeten durcheinander. Ein bejahrter General sagte, zu Anna gewandt:«Kindererziehung sollte man von der Fürstin lernen. Ich habe keine natürlicheren, gesünderen und klügeren Kinder gesehen als die ihren.»
«Ich denke, Kinder kann man nur dann erziehen, wenn man selbst genau weiß, was gut ist und was schlecht. Das Gute muß man fördern und das Schlechte unterdrücken», sagte Anna.«Deshalb kann ich nur Senecas Worte wiederholen:
‹Les facultés les plus fortes de chaque homme sont celles qu’il a exercées.› 18 »
«Woher nimmt sie das bloß!»überlegte der Fürst.«Was für eine gelassene Selbstsicherheit! Und diese Brillanten in ihren Ohren, wie schön sie glänzen, genauso schön wie ihre wundervollen, lebhaften Augen!»
Er mußte daran denken, wie seine Frau abends mit aufgelöstem, goldig schimmerndem dunklem Haar, das ihr auf die entblößten Schultern fiel, vor dem Spiegel stand, wenn sie sich auskleidete, wie sie sich nach ihm umblickte, wenn er ins
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