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Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja

Titel: Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja Ursula Keller Alfred Frank Ursula Keller
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Nachbargut, ein flachsblonder blasser Student mit Brille und ungehemmtem Auftreten. Ohne sich vor irgend jemandem zu genieren, wich er den ganzen Abend nicht von Annas Seite. Sie saßen, mit der Lektüre eines Buches beschäftigt, zusammen auf der Vortreppe zur Terrasse, und Dmitri Iwanowitsch hielt fortwährend im Vorlesen inne, um Anna eifrig das Darwinsche System auseinanderzusetzen.
    Dem Fürsten blieb nichts anderes übrig, als mit der zum Tee wiedererschienenen und zu Anna und ihrem Gesprächspartner hinüberschielenden Olga Pawlowna vorliebzunehmen, da Natascha nicht bei Laune war und aus irgendeinem Grund wenig Neigung zeigte, sich mit dem Fürsten zu unterhalten.
    Als er am späten Abend aufbrach, sagte er, auf der Durchfahrt von Petersburg zu seinem Dorf werde er auf jeden Fall wieder vorbeikommen. Beim Abschiednehmen warf er Dmitri Iwanowitsch einen ärgerlichen Blick zu und gab ihm wie versehentlich nicht die Hand.
    «Ja, für ihn spricht die Jugend», dachte der Fürst, und als er das Haus der Ilmenews verlassen hatte und seinen Blick auf den bestirnten Himmel und den jetzt dunkel daliegenden See mit der rätselhaften bewaldeten Ferne an seinen Ufern
richtete, war ihm, als wäre alles auf der Welt plötzlich verloschen, alles Glück irgendwo hinter ihm zurückgeblieben, untergegangen in dieser geheimnisvollen Nacht, und es schauderte ihm.
    «Dieses Mädchen, das unlängst noch ein Kind gewesen ist, das ich auf dem Arm gehalten habe, und ich - nein, das ist unmöglich!»Es benahm ihm den Atem.«Es kann nicht sein! Was ist das? Wieder das gleiche, und zum wievielten Mal schon! Doch nein, das ist nicht das gleiche, das ist etwas Neues!»
    Abermals trat ihm Anna vor Augen, und in Gedanken entblößte er ihre schlanken Beine und ihren ganzen schmiegsamen, kräftigen jungfräulichen Körper.
    «Und die Augen! Schwarz wie die Nacht und klar, ohne Falsch... Was ist sie für ein Wesen? Etwas ganz Besonderes. Aber wann ist das bloß geschehen? Warum scheint mir auf einmal, daß ich nicht ohne diese klaren Augen, ohne diesen reinen, fröhlichen und lieben Blick leben kann? Vor kurzem noch habe ich diese Mädchen so gleichmütig und mit solcher Freude betrachtet... Und jetzt? Plötzlich habe ich erkannt, daß sie eine Frau ist, daß es niemanden außer ihr gibt, und ich muß, ja ich kann nicht anders, als von diesem Kind Besitz zu ergreifen...»

    Das Blut schoß dem Fürsten in den Kopf. Er kniff die Augen zu, um sich Anna deutlicher ins Gedächtnis zu rufen; die Kutsche rollte schaukelnd den Feldweg entlang, ihr Dahinfahren wiegte ihn ein und verstärkte sein Wonnegefühl und sein Begehren in dieser wundervollen Sommernacht.

II
    Tags darauf saßen in einem geräumigen hellen Zimmer des Obergeschosses die beiden Schwestern zusammen am Tisch. Natascha nähte, und Anna las ihr mit bewegter Stimme ihre Erzählung vor. Das große italienische Fenster war weit geöffnet, die Luft von Geräuschen und Unruhe erfüllt: Im See quakten die Frösche, im Garten sangen die Nachtigallen, und vom Dorf klang der Gesang von Männerstimmen herüber. Annas Stimme zitterte leicht beim Lesen.
    «‹In einem kleinen, ärmlich eingerichteten Zimmer saß eine junge Frau und nähte fleißig etwas Großes und Weißes. Hin und wieder blickte sie zum Fenster und lauschte seufzend auf die Schritte draußen, die der Vogel in seinem Käfig über ihr mit seinem Gesang beinahe übertönte.
Die junge Frau hatte vor kurzem geheiratet und erwartete ihren Mann vom Unterricht zurück. Sie waren beide arm, arbeiteten beide, doch …›»
    «Und das sind deine Ideale, Anna? Oh, daß du dich mal nicht täuschst! Man kann doch nicht Blümchen und Vögelchen zu seinem alleinigen Lebensinhalt machen, zumal wenn man arm ist! Es gibt auch die Prosa des Lebens: Krankheiten, Küche, Unzulänglichkeiten, Streit... Das aber übergehst du im Leben wie in deiner Erzählung. »
    «All das sollte es nicht geben, das heißt, damit darf man sich nicht abfinden. Allein ein geistiges Leben sollte man führen, alles andere ist Nebensache. Ich fühle mich imstande, eine solche geistige Höhe zu erreichen, daß ich niemals Hunger verspüren werde. Ein Stück Brot genügt doch zum Leben, nicht wahr? Nun, das wird man mir reichen. Weißt du, Natascha, manchmal, wenn ich renne, ist mir - ein bißchen nur noch, nur noch kräftig vom Erdboden abstoßen, und ich fliege los. Genauso verhält es sich mit der Seele, ja mit ihr erst recht, sie muß stets bereit sein davonzufliegen -

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