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Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja

Titel: Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja Ursula Keller Alfred Frank Ursula Keller
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von dem soeben hinter dem Horizont versunkenen Mond, auf der anderen von der noch nicht aufgegangenen Sonne.
    Die Augen auf das Fenster gerichtet, zitterte Anna nervös und sank in einen unruhigen Schlaf.

III
    Für Anna brach unmerklich eine ganz neue Phase ihres Mädchenlebens an. Es war, als hätte sie alles Suchen und Zweifeln, all die Fragen und die ihrem Leben angelegten geistigen Fesseln von sich abgeschüttelt. Die Jugend verlangte ihr Recht. Die sorglose, fröhliche Anna begann der göttlichen Welt mit solch mutiger Klarheit in die Augen zu sehen, als hätte sie neue freudvolle Seiten an ihr entdeckt, die ihr bisher verborgen geblieben waren.
    «Natascha, ich will jetzt bei mir Ordnung schaffen», sagte sie einmal zu ihrer Schwester, während sie ihr Malzeug zusammensuchte.«Solange es nicht zu trübe ist, werde ich den ganzen Herbst über mit Ölfarben malen, und zwar täglich. Nach dem Mittagessen spazierengehen, lesen und Tagebuch führen. Wenn du mit dem Unterricht in der Schule anfängst, helfe ich dir.»
    «Na, das wage ich zu bezweifeln. Deine Hilfe kenne ich: Kommst für fünf Minuten angelaufen, plauderst ein bißchen, liest etwas Nutzloses vor - und das war es.»
    «Ach, Natascha, deiner Ansicht nach braucht man bloß rechnen zu können. Für mich aber ist ethische Entfaltung noch wichtiger.»

    «Und die sollen wir beide wohl in ein paar Wochen schaffen? Bis zu unserer Abfahrt nach Moskau haben wir für die Schule höchstens zwei Monate zur Verfügung. Geb’s Gott, daß wir die Anfangsgründe fürs Lesen und Schreiben legen, an Entfaltung ist gar nicht zu denken.»
    «Ja, wenn wir den ganzen Winter hierblieben! »
    «Von wegen! Das geht nicht. Mama langweilt sich, und Mischa soll aufs Gymnasium.»
    «Wann geht es denn los?»wollte Anna wissen.
    «Morgen abend kommen die großen Mädchen, ich habe versprochen, ihnen vorzulesen. Und Montag mache ich die Schule auf. Ich muß das Ganze bloß selbst in Gang bringen, danach kann ich es dem Lehrer übergeben.»
    «Nun, ich gehe jetzt, sonst wird es zu spät.»Damit griff Anna nach einer kleinen Leinwand, dem Farbkasten und einem Sonnenschirm, trat hinaus in den Garten und ging los in Richtung See. An der Stelle, die sie schon lange als außergewöhnlich malerisch ins Auge gefaßt hatte, steckte sie den Schirm in den Boden und machte sich an die Arbeit. Sie malte leicht und frohgemut. Der blaue Himmelsstreif zwischen den herabhängenden Ästen gelang ihr so gut, daß sie sich selbst an ihrem Bild ergötzte. Nervös bewegte
sie ihre Hand zwischen Palette und Leinwand hin und her und war so von ihrer Arbeit in Anspruch genommen, daß sie nicht bemerkte, wie von hinten Fürst Prosorski an sie herantrat, der auf dem Rückweg von Petersburg den Ilmenews wieder einen Besuch abstattete.
    «Hier finde ich Sie also», sagte er zu Anna.«Oh, wie schön Sie malen! Sie sind sehr begabt, das habe ich gar nicht gewußt.»
    «Wirklich? Ich habe vor, viel zu arbeiten. Und wenn Sie das sagen, dann erst recht. Sie kennen sich ja in allem aus», fügte sie hinzu und sah dem Fürsten zutraulich und liebevoll in die Augen. Dieses Verhältnis hatte sie von klein auf zu ihm gehabt, ohne sich jemals des Warum bewußt geworden zu sein. Wahrscheinlich lag es daran, daß sie alle, angefangen bei der alten Kinderfrau, Olga Pawlowna und Mischa, den Fürsten schon so lange als Gast der Familie kannten und ihn liebgewonnen hatten. Als Nachbar von Olga Pawlowna stand er seit seiner Kindheit mit ihr auf vertrautem Fuße. Nachdem sie geheiratet und als Mitgift das Gut erhalten hatte, auf dem sie aufgewachsen war, hatte der Fürst seine gelegentlichen Besuche fortgesetzt. Später dann, als Witwe, konnte sie sich lange nicht entschließen, hierher zurückzukehren. Erst nach Jahren sah
der Fürst sie wieder - ihre Töchter waren inzwischen groß geworden, und sie selbst war gealtert.
    Fürst Prosorski war weniger schön als auf eine verfeinerte Art elegant. Seine umfassende Bildung und ein großes Vermögen hatten ihm überall die Türen geöffnet. Er war viel gereist und hatte eine stürmische, fröhliche Jugend verlebt, um schließlich, all dessen überdrüssig, auf dem Lande ansässig zu werden. Jetzt befaßte er sich mit Philosophie und hielt sich für einen großen Denker. Das war seine Schwäche. Er schrieb Aufsätze, und viele glaubten, er sei tatsächlich sehr klug. Nur sensible und kenntnisreiche Leute sahen, daß die Philosophie des Fürsten in Wirklichkeit überaus dürftig und

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