Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
lächerlich war. Seine Beiträge, die in Zeitschriften erschienen, hatten nichts Originelles, waren nichts als der Abklatsch abgenutzter Themen und Ideen von Denkern aus alten und neuen Zeiten. All das war jedoch so geschickt gemacht, daß der größte Teil der Leserschaft seine Aufsätze sogar mit einer gewissen Begeisterung las, und dieser kleine Erfolg bereitete dem Fürsten unendliche Freude.
Aber nicht das veranlaßte Anna, dem Fürsten zutraulich und liebevoll zu begegnen. Sie mochte seine ganz eigene, von großer Weltläufigkeit geprägte Anteil nehmende Freundlichkeit, die er
allen Frauen entgegenbrachte und mit der er sie für sich einnahm. Auch Natascha und Anna hatten sich diesem Charme nicht entziehen können, so daß die Besuche des Fürsten für die ganze Familie jedesmal ein Fest waren. Er verstand es, wie sie gern scherzhaft sagten, interessante Fragen aufzuwerfen und die unterhaltsamsten Gespräche zu führen, Olga Pawlowna im richtigen Moment beim Legen einer Patience und Mischa bei seiner Schmetterlings- und Käfersammlung zu helfen, mit der alten Kinderfrau zu scherzen und dem Gesinde ein großzügiges Trinkgeld zu geben,«für Tee».
«Im Haus sind Sie schon gewesen, Fürst?»fragte Anna.
«Ja, ich habe alle gesehen und nach Ihnen gesucht. Und bin hierhergeschickt worden. Ohne Sie ist es drinnen ja wie in einer Laterne ohne Licht, alles dunkel und langweilig.»
«Das denken Sie doch nicht im Ernst? Was soll denn an mir sein?»fragte sie errötend. Es erschien ihr als unverhofftes Glück, daß dieser anziehende, von allen geliebte Fürst so von ihr sprach, einem völlig unbedeutenden jungen Mädchen, das er schon als Kind gekannt hatte. Und ihr fiel ein, was für ein schlechtes, ungebärdiges, faules und taktloses Kind sie gewesen war. Auch erinnerte
sie sich, wie sachte und einfühlsam er ihr manchmal Einhalt geboten hatte, wenn sie sich, lebhaft und entschieden, wie sie war, zu überzogenen Äußerungen oder Handlungen hinreißen ließ. Sie hatte immer geglaubt, daß er sie verachte und Gefallen an Natascha finde, und heute nun lobte er plötzlich ihr Bild und sagte, daß er sich ohne sie langweile. Ein ungeahntes, ganz und gar unerklärliches Glücksempfinden bemächtigte sich ihrer.
Anna malte weiter. Sie konnte sich nicht losreißen vom Anblick der prächtigen über den See geneigten Hängebirke, deren weißer Stamm auf ihrem Bild unnatürlich anmutete, doch vor dem Hintergrund des bereits herbstlich bunten Laubes ungemein schön war. Sie fühlte den Blick des Fürsten auf sich, ihre Hand zitterte, und ihr Herz hämmerte.
«Genug, ich kann nicht mehr», sagte Anna schließlich.«Was ist mit mir, warum bin ich so aufregt?»dachte sie.«Bestimmt darum, weil er mich gelobt hat!»Es dunkelte und wurde frisch. Sie klappte den Schirm zu, packte ihre Sachen zusammen, die ihr der Fürst sogleich abnahm, und beide machten sich auf den Weg zum Haus.
Der Fürst ging hinterdrein und betrachtete mit dem Blick des Frauenkenners wohlgefällig ihren
leichten und kräftigen Gang, der auf einen gesunden Organismus schließen ließ, erfreute sich daran, wie reizvoll auf dem schlanken runden Hals der kleine Kopf mit seinen malerisch-graziösen Bewegungen saß, an ihrem zierlichen Körper, um den sie ein Band geschlungen hatte. Der Wind wehte in einem fort die Bandenden und das ihre Beine umfangende Kleid zurück. Das feine schwarze Haar mit dem leicht rötlichen Schimmer verlieh ihrem Gesicht und ihrem Hals eine noch größere Zartheit und Blässe.
Als sich Anna kurz vor dem Haus nach dem Fürsten umwandte, verwirrte sie sein Blick.«Was ist mit ihm?»dachte sie.«Eben noch hat er mich so freundlich gelobt, und jetzt drücken seine Augen etwas Fremdes, ja Tierisches aus... Weshalb nur?»
Ja, weshalb? Ihre ganze Schuld bestand darin, daß ihre Gestalt, ihr Haar, ihre Jugend, das schöne Kleid und die schlanken Beine - daß all das ihrer kindlichen Unschuld unbekannte Verführerische diesen lebenserfahrenen Junggesellen erregte, hatte er doch in diesem Mädchen jenen seltenen Frauentyp erspürt, der unter dem unschuldigen, halb kindlichen Äußeren alle Eigenschaften einer impulsiven, leidenschaftlich-künstlerischen weiblichen Natur barg. Und wenngleich
in der Seele des Mädchens als Gegengewicht zu ihrer Natur die höchsten Ideale von Religiosität und Keuschheit fest verwurzelt waren, wußte der Fürst letztere Eigenschaften weder zu schätzen noch überhaupt wahrzunehmen. Erstere hingegen spürte er
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