Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
mondbeschienene Lichtung und in die Ferne jenseits des Sees gerichtet.
«Wie entflammt Sie aussahen, als Sie von Gott sprachen, Anna Alexandrowna!»
Anna schwieg mißmutig.
«Anna Alexandrowna, wieviel Feuer und Energie
Sie haben! Aus Ihnen könnte eine tätige, großartige Frau werden, wenn Sie einem aufgeklärten Menschen Ihr Vertrauen schenken, sich seinem Einfluß anvertrauen würden, wenn Sie ihn liebgewännen...»
Dmitri Iwanowitsch stahl sich leise an Anna heran, faßte nach ihrer Hand und drückte unvermutet einen Kuß darauf.
Was in diesem Augenblick mit Anna geschah, hatte er in keiner Weise erwartet. Dieses grazile, zarte Mädchen verwandelte sich in eine Furie. Ihre schwarzen Augen schleuderten zornige Blitze gegen Dmitri Iwanowitsch, daß er zur Salzsäule erstarrte. Sie entriß ihm ihre Hand, drehte sie angeekelt herum, um sie an ihrem Kleid abzuwischen, und schrie:«Wie können Sie es wagen! Pfui, was für eine Niedertracht! Ich... ich hasse Sie!»
Scham, Verzweiflung, Wut wegen der Störung ihrer andächtigen Stimmung - alles stieg in ihr auf. Sie stürzte davon, geradewegs ins Schlafzimmer ihrer Mutter, und warf sich laut schluchzend auf deren Liegestatt.
Olga Pawlowna, die bereits im Hinüberdämmern war, bekam einen furchtbaren Schreck.«Was ist passiert? Was hast du?»
«Mama, wie konnte er es wagen! Dmitri Iwanowitsch
hat mir soeben auf der Terrasse die Hand geküßt. Was für eine Niedertracht!»
Anna griff das Eau-de-Cologne-Fläschchen von der Frisiertoilette, um, immer noch schluchzend, Dmitri Iwanowitschs Kuß abzuwaschen.
«Wo hast du ihn denn gesehen?»
«Er... nein, ich war auf der Terrasse und betrachtete den Mond, da kreuzte er auf, ich fand das ärgerlich, er sagte etwas, aber ich wollte allein sein, und plötzlich packte er unversehens meine Hand und drückte einen Kuß darauf.»Anna zuckte zusammen und wischte ihre feingliedrige Hand abermals an ihrem Kleid ab.
«Das geschieht dir ganz recht. Was ist das für eine Art, als junges Mädchen allein auf der Terrasse zu bleiben, wenn das ganze Haus schläft», sagte Olga Pawlowna unwillig.«Aber beruhige dich doch», fuhr sie sanfter fort,«ich werde Dmitri Iwanowitsch schreiben und ihn bitten, seine Besuche einzustellen.»
«Bitte, Mama!»
«Schon gut, geh schlafen. Mir haben eure Gespräche ohnehin mißfallen. Geh schon, deine Schwester hat sich längst hingelegt.»
Anna konnte sich nicht so bald beruhigen. Oben in ihrem Zimmer angekommen, saß sie noch lange still am Tisch, um ihr erregtes Herz
zu besänftigen, bevor sie endlich ihr Tagebuch zur Hand nahm, um zu notieren:
«Ja, diese Liebe war ein Fehler, trügerische Einbildung. Was will ich eigentlich, was macht mich unzufrieden? Was zerreißt mir so das Herz? Verlangt es die Jugend nach Leben, wo es doch gar kein wahres Leben gibt, oder tun mir alle leid, die unglücklich sind? Glücklich sind alle Egoisten. Wodurch wird den Menschen das Glück zuteil? Durch das Schicksal?... Was ist denn das Schicksal überhaupt? Ein Naturgesetz, Bewegung des Universums, göttlicher Wille. Göttlicher, ja, zweifellos. Es tut gut, zu Gott zu beten! Wenn das Gebet aber nur ein Spiel für die Gramgebeugten ist? Ich jedenfalls kann nicht damit brechen. Ich kann nicht akzeptieren, daß alles auf der Welt nichts anderes sein soll als Bewegung der Atome, daß ich nur deshalb gut oder böse bin, weil das Wetter gut oder schlecht ist, daß Menschen moralisch sind, weil ihr Blut sich langsamer bewegt und ihnen Leidenschaft fehlt, daß eine gewisse Verbindung von Teilchen der Materie Umwälzungen in den Menschen und ihren Schicksalen auslöst... Lieber Gott, was für ein Chaos herrscht in meinem Kopf! Wie rätselhaft ist alles auf der Welt, wie armselig bin ich, wie
unentwickelt, kraftlos und verwirrt… Lieber Gott, hilf mir, erleuchte mich!...»
Anna warf das Tagebuch in den Tischkasten, kniete nieder und betete lange. Eine Ewigkeit hatte sie das nicht mehr getan. Ein solches Bedürfnis zu beten überkommt die Menschen entweder bei großem Leid oder bei großem moralischem Wachstum. So verhielt es sich bei Anna.
Als sie sich erhob, erschöpft und zerschlagen, fühlte sie, daß sich mit ihr etwas vollzogen hatte und von nun an alles anders sein würde. Sie legte sich ins Bett, löste die rosa Bänder des weißen Musselinvorhangs und ließ ihn herabfallen.
Alles war verstummt, kein Laut von draußen zu hören. Traurig blickte der blasse Sommerhimmel drein, auf der einen Seite angeleuchtet
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