Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
umzuziehen. Kaum daß sie ihr Reitkleid ausgezogen hatte, trat ihr Mann ins Zimmer. Er hatte sich seine Rede zurechtgelegt, wollte ihr eine Szene machen und hielt inne, frappiert von ihrer Schönheit. Das weich gefaltete Reitkleid lag um sie herum am Boden, während sie mit ihren kräftigen,
wohlgeformten Armen flink ihre welligen, goldig schimmernden Haare eindrehte; Schultern und Hals, von den letzten Strahlen des rosafarbenen Sonnenuntergangs beschienen, glänzten ebenso schön wie ihre von den Tränen und der Erregung geröteten dunklen Augen.
Der Fürst trat dicht an seine Frau heran, sah ihr in die Augen, wobei er ihren ungewohnten Ausdruck bemerkte, und fragte:«Wie fühlst du dich?»
«Ganz gut», sagte sie.
«Tut es nirgends weh?»fragte er, ihren Rükken berührend.
«Nein, nein», sagte sie und entzog sich seiner Hand.
Doch der Fürst ließ nicht ab von ihr. Er ging zur Tür, verschloß sie, trat auf seine Frau zu, beugte sich herab und küßte ihren Busen. Anna zuckte zusammen und wankte zurück. Er zog sie in seine Arme und preßte leidenschaftlich seine Lippen auf ihre Schulter, ihre Lippen...
Sie leistete keinen Widerstand mehr. Mit geschlossenen Augen, ohne an ihren Mann zu denken, ohne sich über etwas Rechenschaft abzulegen, zitterte sie in seiner Umarmung. Der Fürst war freudig überrascht von dieser nachgiebigen Leidenschaftlichkeit seiner Frau. Sie gab sich ihm
ganz hin, doch ihre geschlossenen Augen sahen nur Bechmetew, ihre Phantasie malte ihn in den Augenblicken seiner wortlosen Liebeserklärung, und daneben die erschrockenen, feindseligen Augen Manjas, die mit ihrer unschuldigen Seele die Gefahr erkannt hatte, in der sich ihre Mutter befand …
Tags darauf war der Fürst sehr fröhlich und unternehmungslustig. Seine Eifersucht hatte sich vorübergehend gelegt. Er dachte sich mancherlei Ausfahrten aus, schmiedete Pläne, scherzte und behandelte besonders liebevoll seinen Freund, der gekommen war, um sich nach den Folgen des Sturzes der Fürstin zu erkundigen.
IX
Zum erstenmal in ihrem Leben spürte Anna, daß sie mit sich selbst uneins war. Stets unbeirrbar, rechtschaffen und ruhig, war sie von sich selbst überzeugt gewesen und hatte nichts befürchtet. Doch jetzt verließen sie ihre Kräfte. Sie wußte, daß im August der bereits schwerkranke Bechmetew wegfahren würde; sie fühlte, daß das glückerfüllte Leben an ein Ende kam, und was war danach? Danach blieben das Haus, die Pflichten,
der gleichgültige Egoismus ihres Mannes mit seinem groben Begehren und die fehlende Kraft, dieses Leben ohne das Licht der Liebe fortzusetzen, von dem sie in dieser Zeit so verwöhnt worden war.
«Und die Kinder? Empfinde ich denn nichts mehr für sie?»fragte sich Anna entsetzt.«Nein, das ist etwas anderes, das betrifft eine ganz andere Stelle meines Herzens. Aber wie bin ich doch erschöpft! Wie schrecklich erschöpft bin ich! Und mein Mann? Wo ist sie, meine Liebe zu ihm? Was ist nur geschehen? Warum kann ich nicht sowohl ihn lieben als auch diesen Menschen, der mich auf so uneigennützige, einfache und schöne Weise geliebt hat, ohne etwas zu verlangen? »
Ungeachtet all dieser rechtfertigenden Gedanken fühlte Anna zwangsläufig, daß geschehen war, was im Leben mit ihrem Mann und in der Liebe zu ihm und nicht zu einem fremden Menschen hätte geschehen sollen, was in jeder guten Ehe geschehen sollte.
Sie war einem Menschen seelisch nahegekommen, der es vermocht hatte, statt Gewalt anzuwenden, statt Forderungen zu stellen oder Ansprüche zu erheben, ihr Leben mit dem Licht der Liebe zu erhellen, und als ihr geistiges Leben
Erfüllung fand, war in ihr das Gefühl des Glücks auch durch die physische Nähe dieses Menschen erwacht. Warum war dieser Mensch nicht ihr Mann? Ein solches Ideal hatte ihr vorgeschwebt, als sie heiratete. Wie hatte sie in der ersten Zeit ihren Mann idealisiert, wie lange sich blind seinem Einfluß unterworfen und dabei nur dunkel gefühlt, ohne es sich einzugestehen, daß all das für sie nicht das Rechte war; daß ihr seine Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Innenleben und ihren Kindern weh tat; wie erniedrigend es für sie war, daß sein Interesse allein ihrer blühenden Schönheit, ihrer Gesundheit und ihrem äußeren Erfolg galt, der ihn freute und zugleich jene triebhafte Eifersucht in ihm weckte, unter der sie so schrecklich leiden mußte.«Was soll nun werden? Wie stehe ich jetzt zu meinem Mann?»fragte sich Anna, da sie wie eine Ertrinkende nach dem
Weitere Kostenlose Bücher