Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
zu. Sie überflog den Brief und sagte ruhig:«Eine Einladung von Warwara Alexejewna. Dmitri Alexejewitsch fährt weg, und heute findet dort ein Abschiedsabend statt, anscheinend ein Festmahl mit Gästen.»
«Zeig den Brief.»
Anna lächelte geringschätzig und reichte ihn dem Fürsten.
«Und, fährst du hin?»
«Nein, ich will dich nicht allein lassen. Ah, da ist ja der Arzt.»
Ein mittelgroßer Mann um die Dreißig trat
ein, rosig und gutaussehend, ein unverkennbar deutscher, fader Typ, gutmütig und gelassen.
«Der Verband macht Ihnen Kummer? Das bringen wir gleich in Ordnung», sagte er, nachdem er dem Fürstenpaar einen ziemlich familiären Gruß entboten hatte.
Er krempelte die Ärmel hoch, wusch sich die Hände und ging, von Anna umsichtig und geschickt unterstützt, an die Arbeit.
«Euer Durchlaucht», rief die Kinderfrau ihr leise zu,«könnten Sie bitte einen Moment kommen? »
Sobald der Fürst mit ihrer Hilfe ärztlich versorgt war, verließ Anna das Zimmer.
Die Kinderfrau hatte sie herausgerufen, um sie zu bitten, dem Arzt einen kleinen Jungen vorzustellen, dem ein Pferd das Gesicht lädiert hatte. Der vierjährige Knirps bot einen schrecklichen Anblick, Fleisch und Haut waren zerfetzt und alles mit dunklen Flecken von verkrustetem oder noch sickerndem Blut bedeckt. Hilfe für ihren Sohn erhoffend, blickte die verschreckte bleiche Mutter mit flehenden Augen. Bald schluchzte sie auf, bald erzählte sie hastig irgendwelche Träume:«Ich habe von einem roten Hahn geträumt, das ist es! Dann sehe ich noch einen alten Mann in ein Haus gehen, heilige Muttergottes,
und er winkt mich zu sich, und stickig ist es, zum Übelwerden, oooch!»
«Holen Sie rasch Alexander Karlowitsch her», sagte Anna zur Kinderfrau und lief los, um in ihrer Hausapotheke alles Nötige zum Vernähen der Wunde zusammenzusuchen.
Das Kind wurde gesäubert und mit allerlei Süßigkeiten getröstet, dann setzte Anna es sich auf den Schoß, und der Arzt begann behutsam, die Haut zusammenzuziehen und zu vernähen. Der Kleine bewies eine bewundernswerte Geduld; die Sache machte Fortschritte und näherte sich dem Abschluß. Der Fürst, dem es zu lange dauerte, bis seine Frau zurückkam, nahm seine Krücke und ging nachsehen, was sie denn mache. Als er die Tür heftig aufstieß, fuhr Anna zusammen und drehte sich erschrocken nach ihrem Mann um.
«Ach, Fürstin, halten Sie um Himmels willen den Kopf fest», sagte der Arzt ärgerlich,«fast hätten Sie die Naht aufgerissen.»Und er griff nach Annas Hand, um ihr zu zeigen, wie sie den Kopf des Kleinen halten sollte.
Das Gesicht des Fürsten verfärbte sich.«Überlaß den Jungen seiner Mutter, und komm bitte in mein Zimmer, ich brauche dich», sagte er schroff, herrisch und wütend.
«Aber wir müssen doch mit diesem unglücklichen Kind fertig werden», wandte Anna zaghaft ein.
«Ich bitte dich... Vous m’entendez! 30 »kreischte der Fürst plötzlich und stieß die Krücke auf.
Anna gehorchte nicht und hielt den Jungen, während der Arzt sein Werk eifrig und gewissenhaft fortsetzte, wobei er andauernd, wenn er die Kopfhaltung des Jungen korrigierte, versehentlich Annas Hände, ja sogar ihren Busen berührte, an den der Kleine gelehnt saß. Der Arzt, ganz seiner Sache hingegeben, nahm von alldem nichts wahr, nicht einmal die Worte des Fürsten drangen in sein Bewußtsein.
Plötzlich trat der Fürst dicht heran, packte den kranken Kleinen - seine Krücke fiel krachend zu Boden -, warf ihn der Bäuerin in die Arme, zog Anna hoch und zerrte sie aus dem Zimmer. Der Arzt blickte den Hinausgegangenen verwundert nach, murmelte«Tollkopf!», bat die Kinderfrau, ihm zu helfen, und wandte sich wieder seinem Werk zu.
Unterdessen schleuderte der Fürst Anna, deren Hand er immer noch festhielt, auf den Diwan, stürzte mit einer ungeschickten Bewegung den Sessel um, schlug die Tür zu und begann in seinem Arbeitszimmer auf und ab zu laufen, wobei
er die Krücke aufstieß und wutschäumend auf sie einredete:«Wenn ich dich bitte... Du erniedrigst mich mit deinem Verhalten diesem deutschen Jüngelchen gegenüber! Diese Nähe … Das alles machst du absichtlich!»schrie er in rasendem Zorn.
Doch diesmal erzürnte auch Anna.«Du hast völlig den Verstand verloren! Besinne dich, was du redest! Wie kann man auf solche Gedanken kommen, wenn ein Kind leidet!»
«Schweig! Deine Rechtfertigungen sind noch schlimmer als dein schändliches Benehmen! Geh lieber. Geh! Geh!»schrie der Fürst, stieß Anna
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