Eine Frage der Zeit
ihn aufmerksam. Dann nahm sie ihr kurzes Tabakpfeifchen aus dem Mund, das sie sich jeden Abend gönnte, sagte laut und deutlich: «Mach das!» und vertiefte sich wieder in die Zeitung. Anton Rüter verstand, was sie ihm damit sagte. Sie sagte ihm erstens, dass er die Reise nach Afrika nicht scheuen solle, weil ihm sonst das Leben fad werde; zweitens, dass er sich um sie keine Sorgen zu machen brauche, weil sie in der Zwischenzeit ein Dach über dem Kopf, ausreichend Kohle im Schuppen und Geld auf der Sparkasse haben werde; drittens, dass die Kinder die Abwesenheit ihres Vaters, den sie wochentags sowieso kaum zu Gesicht bekamen, leicht verschmerzen würden; viertens, dass sie mit dem Geld, das er übers Jahr verdiente, das Haus abzahlen und zwei Fahrräder kaufen könnten. Und dass es dann fünftens vielleicht sogar für zwei Wochen Ferien auf Borkum reichte. Er verstand das alles und war ihr dankbar.
Nach einer halben Stunde war die Inspektion des Schiffes beendet, die vier Herren gingen wieder von Bord. Dann folgten die Ansprachen. Joseph Meyer stieg als Erster auf die improvisierte, mit schwarzweißrotem Krepp geschmückte Redekanzel. Er dankte den Berliner Herren mit viel zu leiser Stimme für ihr Vertrauen, dankte den Arbeitern für ihren Einsatz, wünschte der Götzen auf ihrer ungewöhnlichen Reise nach dem dunklen Erdteil gute Fahrt und übergab das Wort dem Inspektor des Reichskolonialamts. Dieser überbrachte Grüße Seiner Kaiserlichen Majestät und ließ den Kaiser hochleben, und während die vierhundert Werftarbeiter pflichtschuldig «Hoch! Hoch! Hoch!» riefen, stieg mit gerafften Röcken Joseph Meyers Gattin aufs Podest, nahm die angeritzte Sektflasche zur Hand, die mit einer Schnur am Ladebaum des Schiffes befestigt war, und schleuderte sie gegen den Bug, wo sie auf Anhieb ordnungsgemäß glücksbringend zerschellte.
Der Photograph unten auf dem Kopfsteinpflaster drückte den Auslöser in genau jenem Augenblick, da der Schaumwein wie Feuerwerk vor dem schwarzen Schiffsrumpf zersprühte. Während der Flaschenhals an der Schnur auspendelte und die Ehrengäste vom Podium hinunterstiegen, sah er sich nach einem nächsten Bildmotiv um, entdeckte am Fallreep Anton Rüter und nötigte diesen, zusammen mit den zwei Arbeitern, die ihn nach Afrika begleiten würden, vor einer Bretterwand zu posieren, worauf das bereits erwähnte Gruppenbild entstand.
Zu Rüters Linken ist der Handwerksbursche Hermann Wendt zu sehen, mit dreiundzwanzig Jahren der Jüngste der Gruppe. Er bietet der Kamera die Stirn mit der selbstbewussten Gelassenheit des Mechanikers, für den es keine unlösbaren Probleme gibt. Er ist es gewohnt, dass die Dinge rund laufen. Wenn eine Schwierigkeit auftaucht, ist das kein Grund zur Aufregung, sondern Anlass zum Nachdenken. Man sucht nach dem Fehler, behebt ihn und kontrolliert anschließend, ob alles wieder rund läuft. Und wenn etwas endgültig kaputt und nicht mehr zu gebrauchen ist, macht man deswegen keinen Aufstand, sondern legt’s eben beiseite. Nach dieser Methode verfährt er nicht nur in mechanischen Dingen, sondern in sämtlichen Bereichen des menschlichen Lebens. Mit seinem Vater, unter dessen Dach er noch immer wohnt, versteht er sich gut; er weiß, worüber sie miteinander reden können, und worüber sie schweigen müssen. Seine Finanzen hat er im Griff; hundert Mark im Monat verdient er, ein bisschen weniger gibt er aus. Mit den Mädchen kommt er bestens klar: Nein ist Nein, und Ja ist Ja, und wenn’s nicht mehr geht, geht’s eben nicht mehr. Er hat im Arbeiterkulturverein Marx und Engels gelesen und sich für deren uhrwerkhafte Geschichtstheorie, für das Ticktack von These, Antithese und Synthese begeistert. Der Gewerkschaft beitreten will er deswegen aber nicht gerade, denn wenn es um seinen Lohn geht, bespricht er das doch lieber selbst mit dem alten Meyer, der ihn bisher immer sehr anständig behandelt hat; und wenn die proletarische Revolution sowieso historisch unausweichlich bevorsteht, sieht Hermann Wendt nicht ein, weshalb er zu deren Herbeiführung seine spärliche Freizeit opfern soll. Die Afrikareise schreckt ihn nicht. Er wird dort runterfahren, ein Jahr für dreifachen Lohn arbeiten und fast nichts ausgeben, und dann heimkehren. Falls es in Afrika heiß ist, wird er eben schwitzen. Wenn’s keine anständigen Betten gibt, wird er sich eines zimmern. Und wenn das Essen komisch schmeckt, wird er’s trotzdem essen. Natürlich kann es passieren, dass man krank
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