Eine Frage der Zeit
und geht sonntags spazieren; und ehe man es sich versieht, ist eine Pyramide gebaut, eine Millionenstadt mit Brot versorgt, ein Zarenreich gestürzt. Große Taten, unsterbliche Werke – die vollbringt man nicht im Vollgefühl ihrer Bedeutsamkeit; man mag sich nicht unablässig selbst befragen. Sonntags vielleicht, und an Silvester. Aber doch nicht bei der Arbeit.
Schiffbaumeister Anton Rüter zerbrach sich gewiss nicht den Kopf über die historische Bedeutsamkeit des Augenblicks, als ihn die Fabriksirene der Papenburger Meyer Werft am 20. November 1913 kurz nach halb elf Uhr zur Schiffstaufe rief. Eine Pause war eine Pause. Es würde Ansprachen und Branntwein für alle geben, und dann Tabak in jenen langen, holländischen Tonpfeifen, die die Werft für solche Anlässe kistenweise auf Lager hielt. Er durchmaß mit sparsamen Schritten den Maschinenraum des nagelneuen Schiffes, schob vorsichtig am Dampfregler und lauschte dem Gleiten der Kolben, dem Summen der Räder und dem Zischen der Ventile. Während draußen die Kapelle des Papenburger Turnvereins «Heil dir im Siegerkranz» spielte, kontrollierte er die Spannung des Stromgenerators, warf einen Blick in die Feuerluken und vergewisserte sich, dass der Frischwasserhahn offen war. Er war stolz auf das Schiff. Die Götzen war sein Schiff – das größte und schönste Schiff, das je in Papenburg gebaut worden war. Rüter hatte sich das Schiff ausgedacht, er hatte die ersten Pläne gezeichnet und zehn Monate lang den Bau geleitet, und die wichtigsten und heikelsten Arbeiten hatte er eigenhändig ausgeführt. Seit der Kiellegung hatte er seine Tage im Gerippe des Schiffsrumpfs verbracht, und oft auch die Nächte; wenn er wach war, hatten seine Gedanken um das Schiff gekreist, und wenn er schlief, hatte er von ihm geträumt. Und jetzt war es fertig. Die Maschinen liefen rund, der Dampfdruck war stabil. Darüber, dass er das Schiff gleich nach der Taufe wieder in seine kleinsten Einzelteile zerlegen würde, grübelte Anton Rüter nicht nach. Das war nun mal seine Aufgabe, und technisch würde es keine Schwierigkeiten geben. Er wischte sich mit einem Lappen die Hände ab und stieg hinauf aufs Hauptdeck.
Die Götzen lag schwarzweißrot über die Toppen geflaggt, mit zischenden Dampfmaschinen, rauchendem Schornstein und frei in der Luft drehenden Schiffsschrauben auf der Helling und schien klar zum Stapellauf. Man hätte nur die Haltetrossen durchschlagen müssen, dann wäre sie über die Backbordseite von den Pallen heruntergerutscht, auf den ölgetränkten Holzbohlen der Ablauframpe in den Turmkanal geglitten und hätte – wie bei seitlichen Stapelläufen üblich – auf der ganzen Länge ihres Rumpfes eine mannshohe Flutwelle ausgelöst, die am gegenüberliegenden Ufer auf die Wiese geschwappt wäre unter Mitnahme des gesamten Fischbestandes, weshalb die Kinder des Städtchens mit großen Weidenkörben bereitgestanden wären, um die im Gras zappelnden Fische einzusammeln. Dann wäre das Schiff durch den Sielkanal in die nordwärts fließende Ems geglitten, über den Dollart an den ostfriesischen Inseln vorbei und hinaus auf die Nordsee, seiner Bestimmung entgegen.
Aber diesmal standen die Kinder nicht auf der Wiese, denn sie wussten seit Monaten, dass man die Götzen nicht zu Wasser lassen würde. Im ganzen Städtchen war bekannt, dass das Reichskolonialamt ein Schiff bestellt hatte, das sich auseinandernehmen und andernorts wieder zusammensetzen ließ, sozusagen im Baukastensystem; jedermann wusste, dass Anton Rüter die Götzen in fünftausend Holzkisten verpacken und tief im Innern Afrikas, südlich des Kilimandscharo und nahe bei den Nilquellen im sagenumwobenen Mondgebirge, wieder zusammenbauen würde. Während der ganzen Bauzeit war den Werftarbeitern klar gewesen, dass sie sich gleich nach der Taufe wieder über das Schiff hermachen würden wie die Termiten, und dass sie jede Schraube, die sie anzogen, bald wieder lösen, und jede Planke, die sie verlegten, wieder entfernen würden. Trotzdem hatte Rüter unzählige Male dazwischengehen müssen, weil einer aus handwerklichem Pflichtgefühl Fugen kalfaterte oder aus Gewohnheit die Platten dauerhaft nietete, statt sie provisorisch zu verschrauben.
Rüter warf einen letzten prüfenden Blick über die hölzernen Planken des Hauptdecks und hinauf zum rauchenden Schornstein, an dem fahl das messingne Steamrohr und die Dampfpfeife glänzten. Gleich würde der alte Meyer in Begleitung von drei Berliner Herren im
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