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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Sander
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noch der Kurier zuhause und viele Büros standen daher leer. Die Bezeichnung „Pressehaus“ war in Waldenthal allerdings so etabliert, dass sie diesen Aderlass überlebt hatte.
    Der Weg in die verschiedenen Abteilungen führte Velten und Marcks durch alle Teile des verschachtelten Gebäudekomplexes, von dem aus alle Lokalausgaben des Morgenkurier gesteuert wurden. Der Verlag hatte das neue Domizil in der Nähe des Rathauses in den neunzehnhundertvierziger Jahren bezogen, nachdem das Stammhaus bei einem verheerenden Luftangriff der Amerikaner in Schutt und Asche gelegt worden war. In der Blütezeit des Unternehmens in den Sechzigern und Siebzigern waren die Räumlichkeiten schnell zu klein geworden, was zu ständigen Erweiterungen und Umbauten geführt und die Ausdehnung in zugekaufte Nachbarhäuser notwendig gemacht hatte. Die Folgen waren bis in die Gegenwart spürbar, denn das Pressehaus war verwinkelt wie ein Maulwurfsbau. Neue Mitarbeiter brauchten Wochen, bis sie sich in dem unübersichtlichen Labyrinth aus Büros und Fluren zurechtfanden. Die Verlagsspitze dachte schon lange über einen zweckmäßigen Neubau im praktischen Schuhkartondesign und die Zusammenlegung mit der Druckerei, die sich in Zweibrücken befand, nach. Wegen der immensen Kosten wurde der Umbau aber immer wieder verschoben.
    Die letzte Station auf ihrem Rundgang war die „Ahnengalerie“ im Erdgeschoss. An den Wänden entlang eines Flurs hingen Fotos von längst verblichenen Verlagslenkern und früheren langjährigen Mitarbeitern des Morgenkurier . Das älteste Bild stammte aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und zeigte Ludwig Christian, der das Blatt gemeinsam mit seinem Bruder aus der Taufe gehoben hatte. Marcks zeigte kein besonderes Interesse an den Fotos. Doch als sie die „Ahnengalerie“ fast durchquert hatten, blieb sie beim Porträt einer jungen Frau stehen: „Wie passt die denn hierher?“
    „Das ist Tina Hofer. Sie war Redakteurin hier in Waldenthal und verschwand vor rund zwanzig Jahren während der Arbeit spurlos. Damals haben die Kollegen beschlossen, ihr Foto solange in der „Ahnengalerie“ hängen zu lassen, bis ihr Schicksal geklärt ist.“
    „Wie alt war sie?“
    „Sechsundzwanzig.
    „Ungefähr so alt wie ich“, sagte Marcks betreten. „Kannten Sie sie?“
    „Nein, ich kam kurz nach ihrem Verschwinden zum Morgenkurier . Ich bin ihr Nachfolger.“
     
    - - -
     
    „Soll ich eine kurze Meldung über die Parkplatzleiche auf unserer Website posten?“, fragte Marcks, als die beiden Journalisten sich in ihrem Büro wieder gegenüber saßen. Velten, der damit begonnen hatte, seine ungelesenen Mails zu überprüfen, sah sie verständnislos an. Sie lachte: „Oh, sorry, Dörner warnte mich schon davor, dass sie mit dem Internet auf Kriegsfuß stehen. Also ‚posten’ bedeutet...“
    „Mich hat er davor gewarnt, dass Sie ‚nervtötend’ sind“, gab Velten zurück.
    „Das hat er nicht!“, brauste sie auf.
    „Und im übrigen habe ich sehr gut verstanden, dass Sie einen Text über unseren Toten auf der Morgenkurier -Homepage veröffentlichen wollen. Ich lebe ja nicht hinterm Mond. Aber was wollen Sie schreiben? Zur Zeit wissen wir ja noch so gut wie nichts. Warum warten wir nicht einfach die Pressemitteilung der Polizei ab?“
    „Lassen Sie mich mal machen, Chef!“
    Velten zuckte die Achseln und widmete sich wieder seinen E-Mails. Viel Brauchbares war wegen der Sommerferien nicht darunter. Der Stadtrat machte Pause und das gesamte gesellschaftliche Leben lief auf Sparflamme. Jedoch witterten in der Sauregurkenzeit alle möglichen Spinner, Verschwörungstheoretiker und politischen Randfiguren regelmäßig ihre große Chance, mit kruden Verlautbarungen und an den Haaren herbeigezogenen Geschichten ins Blatt zu kommen. Velten sah die Pressemitteilungen durch und beförderte eine nach der anderen mit einem Klick auf die Delete-Taste in den virtuellen Papierkorb. Lediglich die herzige Meldung der freiwilligen Feuerwehr, die nach einem kleinen Brand im Streichelzoo des Waldenthaler Tierparks ein Kaninchen durch Sauerstoffzufuhr vor den tödlichen Folgen einer Rauchvergiftung gerettet hatte, merkte er für eine Veröffentlichung vor. Der Pressewart der Feuerwehr hatte sogar ein Foto mitgeschickt, das den plüschigen Nager unter einer viel zu großen Atemmaske zeigte. Tiergeschichten gingen immer, auch wenn Velten sie meistens reichlich blöde fand.
    „Ich habe die Meldung fertig. Wie finden Sie sie?“
    Er war

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