Eine Frage des Herzens
Quelle im Passamt in Erfahrung bringen.«
»Sixtus, ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«
»Wage es nicht, Tom. Was Bernie und du im Lauf der Jahre für uns getan habt, können wir nie wiedergutmachen. Hast du drüben noch etwas herausgefunden?«
»Ich weiß, wo sie arbeitet«, erwiderte Tom. Die Verbindung war schlecht. Wahrscheinlich telefonierte er mit dem Handy und war mit dem Auto unterwegs. So klang es jedenfalls, dem Krach nach zu urteilen, der vom anderen Ende der Leitung herüberdrang.
»Tom, bist du noch dran?«, rief Sixtus. »Tom? Richte Bernie meine allerbesten Grüße aus.«
Doch die Verbindung war bereits unterbrochen. Sixtus Kelly legte den Hörer auf und lehnte sich zurück. Seine Mandanten warteten auf ihn, unter anderem der Anwalt der Schwester des Premierministers. Doch zuerst musste er innerlich zur Ruhe kommen. Er blickte auf die Dublin Bay hinaus – einstmals so gefährlich für Schiffe und Kellys, die in die Schlacht zogen – und dachte an seinen Cousin und dessen Sohn, an Liebe, Treue und Sieg.
Im Augenblick brauchten sie alle drei.
21
R egis Sullivan, Absolventin des Boston College im zweiten Studienjahr, litt unter dem, was ihre Tante als Anpassungsprobleme bezeichnet hätte. Bei der Rückkehr nach den Sommerferien hatte sie das Gefühl gehabt, dem Deck eines brennenden Schiffes entronnen zu sein und endlich wieder sicheren, trockenen Boden unter den Füßen zu haben. Nun galt es, in ein normales Leben zurückzufinden. Sie hatte Philosophie als Hauptfach gewählt. Jeden Tag den Unterricht zu besuchen und zu hören, was die Jesuiten über Wahrheit, Mysterien und die Grundvoraussetzungen des Glaubens lehrten, wirkte sich hilfreich auf ihre Orientierung aus.
Ihre Zimmergenossinnen waren phantastisch. Monica, Juliana und Mirande nahmen sie unter ihre Fittiche und sorgten dafür, dass sie nicht ständig über die Rolle nachsann, die sie beim Tod von Gregory White gespielt hatte. Als ihre Kommilitonen vom BC von ihrer Irlandreise hörten, gaben sie ihre eigenen Erlebnisse zum Besten – die Besichtigung von Dublin Castle, ein Drink in den engen Kopfsteinpflaster-Gassen von Temple Bar, ein neu entwickeltes, quicklebendiges Stadtviertel, in dem sich vor allem junge Leute tummelten, der Versuch, Karten für ein U 2 -Konzert zu ergattern, Besuch der Guinness Brewery, Blarney Stone, um den Stein zu küssen und sich in einen eloquenten Redner zu verwandeln, der Wunsch, für ihre Mom ein Souvenir aus Waterford Kristall zu kaufen, das sich als zu teuer erwies, und ihr stattdessen einen Schal mitzubringen.
Ihre Zimmergenossinnen wussten, dass Regis’ Reisen nach Irland anders verlaufen waren. Bei der ersten, die sechs Jahre zurücklag, hatte sie mit ihrem weltberühmten Vater auf den Klippen von Ballincastle gestanden, wo sich eine Skulptur von ihm befand, und mit einem geistig verwirrten Mann um ihr Leben gekämpft. Sechs Jahre lang hatte sie unter einer Amnesie gelitten. Die Erinnerung an den Kampf war wie ausgelöscht. Während des ersten Studienjahres, mussten ihre Zimmergenossinnen damit zurechtkommen, dass sie nachts unter Alpträumen litt, weinte und manchmal aus voller Kehle schrie, wenn Einzelheiten jenes grauenvollen Tages Stück für Stück an die Oberfläche ihres Bewusstseins drangen.
Als ihr Vater aus der Haft entlassen wurde und endlich nach Hause kam, brach der Damm, und sie wurde von Erinnerungen überflutet – der Regen, das Blut, das Geschrei, der dumpfe, tödliche Aufprall. Ihre Familie hatte sie nach Dublin begleitet, wo sie die Möglichkeit erhielt, die Geschichte im Rahmen einer Anhörung aus ihrer eigenen Warte zu schildern. Tom Kellys Vetter Sixtus hatte sie als Anwalt vertreten, und die irischen Ermittlungsbehörden hatten darauf verzichtet, Anklage zu erheben.
Nach all den Aufregungen war nun wieder Schule angesagt. Zumindest waren die Alpträume verschwunden. Stattdessen lag sie im Bett, starrte zur Decke und erkundete die ihr fremde neue Welt der Schlaflosigkeit.
Manchmal warf sie einen Blick zu den anderen hinüber, doch nur Mirande war wach und zeichnete in ihrem Skizzenblock. Da Regis’ Eltern beide Künstler waren, hatte sie sich durch das Kratzen der Zeichenkohle auf dem Papier getröstet gefühlt. Mirande war diejenige unter ihren Zimmergenossinnen, der sie am nächsten stand. Auch wegen ihres Namens. Er war cool. Ihre Eltern hatten sie nach dem Ort benannt, an dem sie gezeugt worden war, als sie die Familie ihres Vaters an der Côte d’Azur
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